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Ruth von Seen
Ruth von Seen
FreeLesen und Schreiben sind meine Leidenschaft. Mit offenen Ohren und Augen durch die Stadt flanieren - und Schattenspiele beobachten.
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Winterthur
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Vitodura will abstimmen: aber sie darf nicht
Vitodura hat viel über den Apfelbaum nachgedacht, über das Plakat, das sie allenthalben sieht.Zu Bäumen hat sie seit jeher eine besondere Beziehung. Sie brachten ihr Nachrichten aufs Dach, im Winter am Wenigsten, aber dann, wenn die Sonne wärmer wird und die Knospen aufplatzen – ach, sie sehnt sich danach, auch wenn sie nun hier unten durch die Strassen läuft. Die Bäume sind von unten ganz anders anzusehen: Zuerst der dicke Baumstamm, dann die Aeste, die sich wie Arme ausbreiten und in den Himmel wachsen. Und dann war da plötzlich dieses sonderbare Plakat. Vor diesem blieb sie immer wieder stehen. Sie versteht, dass unten in die Baumwurzel hinein die Umrisse des kleinen Landes Schweiz hineingezeichnet worden sind. Die Schweiz als Maulwurf? Als Gefangene in den Klauen eines Apfelbaumgespenstes, das Angst hat vor allem Fremden? Das nur im eigenen Gärtlein werkeln will und sich doch nicht scheut, die Arbeit, die niemand tun will, an Billiglohnkräfte zu vergeben? Billiglohnkräfte? Dahinter stecken doch wohl Menschen und keine Maschinen?Und die Aepfel in der Baumkrone oben, glänzen die nicht verdächtig nach dem Gift, das die mächtige Stiefmutter "AngstGierEifersucht" heimlich in die Früchte spritzte? Vitodura hat genug gegrübelt. Sie ist heute ins Restaurant "zum Trübli" eingeladen und freut sich auf eine warme Mahlzeit. Und ein gutes Gespräch. Es muss nicht unbedingt politischer Art sein – lässt sich aber so kurz vor dem Abstimmungssonntag wohl kaum vermeiden. Sie selber wird nicht abstimmen dürfen. Vitodura ist eine Sans-Papier, hat sie sich sagen lassen, deshalb bekam sie kein Abstimmungsmaterial. Auf dem Dach des Stadthauses ist kein Briefkasten angebracht, das muss Vitodura zugeben. Aber abstimmen hätte sie zu gern gewollt, denn schliesslich fühlt sie sich gewissermassen ein Stück weit verantwortlich für das Geschehen im Hause drin. Da wo die Köpfe hochrot anlaufen, zuweilen. Wo jeder recht haben will und man sich fragen muss, ob die gängigen Kommunikationsregeln eigentlich bekannt sind.Eine wichtige Sache, diese Abstimmung mit den verschiedenen Vorlagen, denkt Vitodura.Schneewittchen sollte schleunigst erwachen, aufstehen, den giftigen Apfel ausspucken und erhobenen Hauptes ins Stadthaus einziehen. Fortsetzung folgtIllustration von Monique Stadler
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- Der schönste Ort in der Stadt:
- Stadtbibliothek
Lesen und Schreiben sind meine Leidenschaft. Mit offenen Ohren und Augen durch die Stadt flanieren - und Schattenspiele beobachten.
- Der schönste Ort in der Stadt:
- Stadtbibliothek
- An diesem Ort kann ich mich am besten entspannen:
- Hof der Stadtbibliothek
- Meine Lieblingsbar:
- Fahrenheit
- Mein Lieblingsclub:
- Albani
- Da nehme ich noch einen Schlummi:
- Coalmine
- In einem Film über mein Leben, würde mich dieser Schauspieler verkörpern:
- Meryl Streeep
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Vitodura will abstimmen: aber sie darf nicht
Vitodura hat viel über den Apfelbaum nachgedacht, über das Plakat, das sie allenthalben sieht.
Zu Bäumen hat sie seit jeher eine besondere Beziehung. Sie brachten ihr Nachrichten aufs Dach, im Winter am Wenigsten, aber dann, wenn die Sonne wärmer wird und die Knospen aufplatzen – ach, sie sehnt sich danach, auch wenn sie nun hier unten durch die Strassen läuft. Die Bäume sind von unten ganz anders anzusehen: Zuerst der dicke Baumstamm, dann die Aeste, die sich wie Arme ausbreiten und in den Himmel wachsen. Und dann war da plötzlich dieses sonderbare Plakat. Vor diesem blieb sie immer wieder stehen. Sie versteht, dass unten in die Baumwurzel hinein die Umrisse des kleinen Landes Schweiz hineingezeichnet worden sind. Die Schweiz als Maulwurf? Als Gefangene in den Klauen eines Apfelbaumgespenstes, das Angst hat vor allem Fremden? Das nur im eigenen Gärtlein werkeln will und sich doch nicht scheut, die Arbeit, die niemand tun will, an Billiglohnkräfte zu vergeben? Billiglohnkräfte? Dahinter stecken doch wohl Menschen und keine Maschinen?
Und die Aepfel in der Baumkrone oben, glänzen die nicht verdächtig nach dem Gift, das die mächtige Stiefmutter "AngstGierEifersucht" heimlich in die Früchte spritzte?
Vitodura hat genug gegrübelt. Sie ist heute ins Restaurant "zum Trübli" eingeladen und freut sich auf eine warme Mahlzeit. Und ein gutes Gespräch. Es muss nicht unbedingt politischer Art sein – lässt sich aber so kurz vor dem Abstimmungssonntag wohl kaum vermeiden. Sie selber wird nicht abstimmen dürfen.
Vitodura ist eine Sans-Papier, hat sie sich sagen lassen, deshalb bekam sie kein Abstimmungsmaterial. Auf dem Dach des Stadthauses ist kein Briefkasten angebracht, das muss Vitodura zugeben. Aber abstimmen hätte sie zu gern gewollt, denn schliesslich fühlt sie sich gewissermassen ein Stück weit verantwortlich für das Geschehen im Hause drin. Da wo die Köpfe hochrot anlaufen, zuweilen. Wo jeder recht haben will und man sich fragen muss, ob die gängigen Kommunikationsregeln eigentlich bekannt sind.
Eine wichtige Sache, diese Abstimmung mit den verschiedenen Vorlagen, denkt Vitodura.
Schneewittchen sollte schleunigst erwachen, aufstehen, den giftigen Apfel ausspucken und erhobenen Hauptes ins Stadthaus einziehen.
Fortsetzung folgt Illustration von Monique Stadler
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Vitodura schlendert durch das Wochenende -: und trifft auf einen Notenständer
Vitodura liess sich durch die Angebote treiben, die Ron, den sie kürzlich zufällig kennenlernte, im täglichen Newsletter angepriesen hatte.
Am Sonntag jedoch ist es ruhig in der Stadt. Zu ruhig irgendwie. Die Wolken hängen tief in die Gassen hinein, die Leute haben die Mantelkrägen hochgezogen und wer keinen Kragen hatte, zieht die Schultern hoch. Vitodura sehnt sich nach einer Freundin. Sie fühlt sich wie eine Neuzugezogene, dabei lebt sie doch seit vielen Jahrzehnten auf dem Dach des Stadthauses. Sie kann sich kaum daran erinnern, wie sie auf das Stadthausdach gekommen ist. Aber 2005 wurde sie frisch renoviert an ihren ursprünglichen Platz gesetzt. Und zieht in diesem Jahr 2014 durch die Stadt, mit dem wachen und fragenden Blick eines Kindes oder einer Fremden; eben.
Denn auf dem Dach oben zu stehen und mit Röntgenblick auf die benachbarten Dächer zu schauen, den Verkehrslärm wahrzunehmen und ab und zu das Gewicht einer Taube auf dem Kopf zu spüren – das ist wahrlich ein statischeres Leben als sich auf den Boden der Stadt zu stellen und sich der Vibration der Geschichten auszusetzen. Alles hat eine Geschichte, denkt Vitodura, die Häuser mit ihren Wänden und den Schildern und die Menschen und Hunde, alle wollen erzählen, was sie sind und woher sie kommen.
Ich will meine Ohren spitzen, denkt Vitodura. Und vielleicht finde ich sogar eine Freundin.
Sie überquert auf dem Fussgängerstreifen die Strasse (sie lernt, sie lernt schnell!) und sieht linkerhand ein mächtiges Haus. Das Restaurant ist heute geschlossen, liest sie. Schade, wohin soll sie nun gehen?
Als würde die junge Frau mit dem Notenständer auf dem Arm Gedanken lesen, wird Vitodura angesprochen:
Wollen Sie mit mir an ein Konzert? Es findet in der Kirche St. Arbogast statt – seien Sie mein Gast.
Vitodura ist hocherfreut, gern lässt sie sich am Arm nehmen und sozusagen zu ihrer Wiege führen – römische Ausgrabungen rund um die alte Kirche in Oberwinterthur! So weit ist sie noch nicht gekommen.
Die Beiden finden einen Platz in den hintersten Reihe und schon lassen sie sich von bulgarischen Volksweisen entführen. Welche Kraft liegt in den Stimmen.
Jede einzelne Stimme ist wichtig, damit der Chor diesen Klang erhält, genau diesen.
So ist es doch auch mit der Stadt und ihrer Bevölkerung, sinniert Vitodura. Sie vergisst, dass sie Kirchen von oben noch nie gemocht hatte – aber so?
Fortsetzung folgt Illustration von Monique Stadler
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Klaus tritt ab - Vitodura rückt auf die Bühne vor: Vitodura: Göttin der Gerechtigkeit und Schutzherrin der Stadt, eine Fortsetzungsgeschichte
Vitodura steigt vom Stadthausdach
Sie will endlich mitreden in dieser Stadt. Den Heiligenschein wirft sie von sich wie ein zu gross gewordenes Kleid und schaut ihm nach, wie es als roter Luftballon gen Himmel zieht. Dort ist er ja auch am richtigen Ort, ehe er platzt, denkt Vitodura und macht sich auf den Weg.
Allerdings muss sie zwischendurch anhalten und verstohlen einige Stretch Übungen machen; ihre Knochen sind eingerostet, die Muskeln wollen auch nicht so richtig mitspielen. Wird schon, knurrt Vitodura in sich hinein und geht weiter.
Auf dem Dach oben hat sie ja einiges gesehen, aber sie hätte eine Brille gebraucht, um gewissen Szenen die nötige Schärfe zu geben.
Vitodura wird mit jedem Schritt, den sie tut, zu einer Frau, die sich in ihrer Stadt bewegt. Aber hoppla, da fehlen noch Schuhe. Sie muss nicht weit gehen, da findet sie ein Geschäft mit Schuhen und Kleidern, allesamt aber ziemlich teuer. Sale? Was das wohl ist? Geld? Damit hat sie sich noch nicht weiter befasst, aber die Verbindung zum Himmel sollte eigentlich auch ohne Heiligenschein funktionieren.
Vitodura greift in ein Seitenfach ihrer Tasche (diese wird sie noch oft zum Erstaunen bringen) und zieht eine Karte hervor. Da sie nicht auf den Kopf gefallen ist, hat sie blitzschnell begriffen, wie die Kundin vor ihr bezahlt hat. Vitodura schiebt ohne mit der Wimper zu zucken, die Karte ins Kästchen und bezahlt Schuhe, Jacke und Hose – alles innerhalb nützlicher Frist ausgewählt. Das Kleid, das sie seit vielen Jahren trug, war längst abgewetzt; sie lässt es im Geschäft zurück.
Fortsetzung folgt. Illustration von Monique Stadler
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Auch der Frauenstadtrundgang fand dies nötig und holt Vitodura vom Dach: frauenrundgang.ch
Von Königen, Indianern und einem Schwert: Geschichte von Ruth Loosli / Illustration von Monique Stadler
Klaus ist nüchtern. Das neue Jahr hat zwar begonnen wie noch nie: Er in Uniform vor dem Hotel stehend, mit einer Fackel, als wäre er ein Würdenträger. Oder so was. Die Leute waren tatsächlich recht grosszügig mit dem Trinkgeld. Zuhause hat er einen Esel aus Ton aufgestellt, der oben im Rücken einen Schlitz ausweist, da kommt alles rein, was er nicht braucht an Kleingeld. Und wenn's hoch kommt, stopft er auch mal ein Nötli in den hungrigen Sparbauch.
Manuel steht auf der Marktgasse, ein Schwert zur Linken und die Krone auf dem stolz erhobenen Haupt.
Manuel hat heute Geburtstag. Er wird vier Jahre alt. Es ist der 6. Januar 2014.
Dass Klaus Manuel, den kleinen König am 6. Januar kennenlernt, ist eine einfache Sache. Manuel hat Klaus in der Uniform gesehen. Manuel entschlüpft rasch der Hand der Mutter, die mit ihm das Schaufenster des Spielwarengeschäftes betrachtet hat und stellt sich zu Klaus. Er sieht zu ihm auf:
Bist du ein Soldat? fragt Manuel.
Nein, sagt Klaus, ich bin nur ein Türsteher.
Ist das gefährlich, fragt Manuel. Schau, ich habe ein Schwert, fügt er hinzu und schiebt Klaus sein Kartonschwert vor die Nase.
Willst du es ausleihen von mir?
Das ist lieb, lacht Klaus, aber ich brauche kein Schwert. Klaus schaut auf die Uhr: Aber ich darf nicht mehr mit dir sprechen, gleich kommen die drei Könige aus dem Morgenland und ich muss eine ernste Miene machen.
Ernst? fragt Manuel.
Doch im selben Moment sieht er die drei Könige durch die Marktgasse heranschreiten und geht schnell zu seiner Mutter zurück.
Heuer gibt es vier Könige vor der Krone und Klaus hat alle Hände damit zu tun, dass er sich nicht anmerken lässt, wie gern er einen Indianertanz aufführen würde.
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Zum Jahreswechsel: Gute Besserung!
Klaus hat es ins Bett gehauen. Wie er noch am Tag zuvor ein Ei in die Pfanne gehauen hatte, so liegt er nun da: Aufgeschlagen, zitternd und blubbernd und Blasen werfend. Der Hals schmerzt, die Nase läuft, und der Kopf brummt. Dem will er abhelfen, zumindest einen Einschüchterungsversuch unternimmt er: Neocitran! Irgendwo muss noch so ein Beutel sein.
Klaus öffnet den Medizinschrank, wo er alles schön geordnet hat: Im oberen Regal die Pflaster und Salben, im unteren die Medizin, die sich einnehmen lässt.
Die Weihnachtstage sind vorbei, "La Couronne" hat die feinen Gäste bewirtet und er, der draussen stand mit seiner brennenden Fackel, hat sich eine zünftige Erkältung geholt.
So wird das nix mit dem Geld verdienen, denkt Klaus, ich muss über Silvester wieder fit sein und meinen Job machen.
Temporärarbeit wird nur bezahlt, was tatsächlich gearbeitet wird, so weit weiss er sich informiert.
Also noch ein paar Stunden das Bett hüten und von Sonja träumen und danach aufstehen, in die Uniform schlüpfen und stadteinwärts stapfen.
Wir, die LeserInnen wünschen ihm definitiv gute Besserung und zum Jahreswechsel spendierfreudige Gäste. Und ein Glas Sekt. Und dass ihn jemand hineinwinkt an die Wärme. Und danach wird er von der Stadtkirche her die Glocken hören und das Zischen von Feuerwerk. Und noch später das Geheul der Raketen, die beim Stadttheater abgefeuert werden – 750 Jahr Stadtrecht, jawohl, das will gefeiert werden, ein ganzes kommendes Jahr lang. Wohl bekomm' s!
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Da kommt sie, die Weihnachtsgeschichte!: Effort "Wohnungs - und Jobsuche"
Ehe sich Klaus als Ausländer für einen Hungerlohn verdingt, versucht er es doch noch mit einer Anfrage bei der Stadt.
Er steigt die Treppen hoch in den zweiten Stock, zieht eine Nummer und setzt sich in eine der orangen Schalen aus Hartplastik. Vor ihm sitzt in aufrechter Haltung eine hochschwangere Frau, sie trägt ein Kopftuch und scheint zu frösteln. Nummer 31 ist dran, die Frau erhebt sich.
Klaus kann nicht anders, er hört dem Gespräch zu.
Ich heisse Maria, hört er die Frau sagen.
Bitte, was kann ich für Sie tun, fragt die Stadt. Sie trägt ihr Haar heute halblang.
Sie – Sie mir helfen bitte, hört Klaus die Frau sagen. Ich eine neue Wohnung brauchen. Mein Mann keine Arbeit. Drei Kinder zuhause und bald dieses hier. Klaus sieht die Bewegung ihres Ellbogens, wahrscheinlich streicht sie sich über den Bauch.
Die Stadt verschränkt ihre Arme.
Da sind Sie bei mir nicht an der richtigen Stelle, sagt sie.
Wo ich muss hin? fragt die Frau und rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her.
Die Stadt scheint einen Moment zu überlegen.
Schwierig, schwierig, sagt sie. Es ist bald Weihnacht, alle sind beschäftigt mit dem Aufstellen der Krippen, mit dem Füllen von Stroh und dem Backen von Weihnachtsplätzchen.
Ja, einen Plätzchen ich brauche für meine Familie, sagt die Frau und steht schwerfällig auf.
Vielen Dank, sagt sie. Auf Wiedersehen.
Klaus möchte aufspringen und sagen, ach, kommen Sie doch zu mir in den Wald, in meiner Hütte ist es warm.
Aber seine Vorratskammer ist leer, Sonja ist weg und er?
Die Stadt verhilft Klaus zu einem vorübergehenden Job als Türsteher beim stadteigenen Hotel "La couronne". Dort kann er über Weihnacht und Silvester in einer Uniform draussen stehen und den betuchten Gästen den Weg an die Wärme weisen.
Am Liebsten würde er auch Maria und ihre Familie hineinschmuggeln, aber das geht nicht. Zur Zeit klopfen sie immer noch an die Tür der Länder und der Städte, denn im nahen Osten ist der Winter eingebrochen wie ein Dieb, der auch die letzte menschliche Wärme stehlen will.
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