Zurück
dieperspektive
dieperspektive
Freedieperspektive, die lesergenerierte Monatszeitung für Kunst, Kultur & Politik
Meine Stadt
Zürich
Follower
7
«Ich bin ein Mensch, kein Tier.»
Das Haus «Flüeli» steht irgendwo im nirgendwo. Hoffnung, oder nur schon Beschäftigung, gibt es nicht. Die absurde Geschichte des Besuches im Ausreisezentrum für abgewiesene Asylanten. Eine Tragödie in mehreren Szenen.PrologBevor wir das Haus überhaupt sehen können, sehen wir nur weiss: Alles ist zugeschneit an diesem Nachmittag. Kurz nach Landquart montieren wir die Schneeketten, damit wir wenigstens bis ins Dorf Valzeina GR fahren können. Dort ist dann Schluss – die Strasse gleicht einer Tiefschneeroute, das Auto will nicht mehr weiter. Also laufen wir. Eine halbe Stunde den Berg hinauf. Das Dorf weit hinter uns – vor uns kommt ausser Berg, Schnee und Himmel nicht mehr viel. Dann stehen wir vor dem eingeschneiten «Flüeli». Ein ehemaliges Ferienzentrum, in dem seit 2007 Menschen leben, die kein Recht haben, sich in der Schweiz aufzuhalten – definitiv abgewiesene Asylsuchende also. Das ist der Ort, wo sie hingesteckt werden. Es ist wie im Gefängnis. Nur ein bisschen anders. Sie können zwar raus, aber da ist nichts. Ein alter Militär-Jeep steht auf dem Parkplatz, an der Haustüre warnt ein Schild vor dem Eintreten ohne Genehmigung. Da uns der Abteilungsleiter Georg Carl (SVP) vom bündnerischen Amt für «Asyl und Vollzug» eine solche Bewilligung erteilte, betreten wir das Haus. Er riecht nach Essen. Totenstille. Wir rufen. Wir klopfen an Türen.Jetzt schnell ein Abo machen und die neue Ausgabe von dieperspektive zum Thema «Das Boot ist voll» schon bald im Briefkasten haben. Hier für nur 30 Stutz pro Jahr. Szene 1 – Die Beamten und das HausHerr Carl und sein Angestellter Herr Wüest rufen uns in ihr Büro. Herr Wüest arbeitet jeden Tag von morgens um acht bis abends um fünf im «Flüeli» – er ist der Betreuer und Unterkunftsleiter. Herr Carl schaut, dass die knallharte Asylpolitik des Regierungsrates durchgesetzt wird. 2.7% aller Asylsuchenden in der Schweiz kommen in den Kanton Graubünden – das sind 1196. Flüchtlinge, deren Gesuch abgelehnt wurde, haben drei Möglichkeiten: Entweder reisen sie freiwillig aus, sie tauchen unter, oder sie kommen ins «Flüeli». Momentan leben acht Personen im Haus – Platz hätten 40. Sie kriegen nichts ausser Nothilfe. Diese wird nicht in Geld, sondern in Sachleistungen geleistet: Essen und Unterkunft. Das Haus besteht aus vier Stockwerken. Unten ist das Büro, die Küche und der Aufenthaltsraum: Ein Sessel, ein Tisch, zwei Bänke. Sonst nichts. Im ersten, zweiten und dritten Stock wohnen die Menschen.Szene 2 – Der Traum vom SelbstmordDa die Insassen keine Anwesenheitsberechtigung haben, wie Herr Carl ausführt, sollen sie auch keiner Beschäftigung nachgehen dürfen. Zudem ist es eine Strategie, jene, die nicht freiwillig gehen wollen, zur Freiwilligkeit zu zwingen. Der gottverlassene Standort der Unterkunft, das Besuchsverbot, das Beschäftigungsverbot – hier will niemand sein. Einheimische aus Valzeina waren früher oft mit Spielen und Kaffee zu Besuch – Herr Carl fand das ein Stück weit kontraproduktiv. Bei einer scheint diese Strategie nicht so recht ziehen zu wollen. Die 40-jährige Äthiopierin wohnt seit vier Jahren und zwei Monaten im «Flüeli». Ihr Gesuch wurde im Jahr 2009 abgelehnt. Warum? Das weiss sie nicht. Sie habe nie Probleme gemacht. Geflohen ist sie, nachdem ihr Mann bei politischen Unruhen ermordet wurde. Träume hat sie keine mehr. Sie will etwas Sinnvolles tun, schliesslich sei sie ein Mensch, kein Tier. Zur Hälfte möchte sie sterben, die andere Hälfte zwingt sie zum Warten. Worauf? Das weiss sie nicht. Bis es soweit ist, schaut sie fern. Denn lesen und schreiben kann sie nicht.Szene 3 – Von Tamil Tigern und BuddhismusBeim Betreten eines Zimmers schlägt uns dicke Luft entgegen. Der 24-jährige Tibeter geht seiner Hauptbeschäftigung nach, dem Schlafen. Über den Besuch scheinen er und sein Zimmergenosse aus Sri Lanka sich trotzdem zu freuen. Obwohl sie kaum Deutsch sprechen, sprudelt es aus den beiden heraus, als hätten sie seit Wochen kein Gespräch geführt. Nichts gibt es hier zu tun, ausser eben Essen und Schlafen. Eigentlich möchte der Tibeter Fussball spielen. Aber eine Fahrt mit dem Bus nach Landquart kostet 7.50 CHF. Die Betreuer versichern uns, dass die Bewohner immer wieer nach unten fahren. Woher die Asylanten das Geld dafür nehmen, konnten Sie uns auch nicht sagen. Der hagere Flüchtling aus Sri Lanka bekommt hin und wieder Geld von Landsleuten, die er von seiner Zeit vor dem Flüeli kennt. Ohne diese Hilfe wäre er hier oben gefangen. Für grosse Sprünge reicht es trotzdem nicht. Zweimal täglich müssen die Bewohner bei der Anwesenheitskontrolle im Flüeli sein.Szene 4 – Die EmpörtenTermine rufen Herrn Carl nach Chur, wir müssen gehen. Nur unter Beobachtung dürfen sich Personen mit Bewilligung im Haus bewegen. Wieder aus dem Haus bleibt ein dumpfes Gefühl zurück. Es ist Nachmittag und die Strassen sind immer noch völlig zugeschneit. Am anderen Dorfende wohnen Herr und Frau Stirnimann. Für ihr Engagement mit dem Verein «Valzeina Miteinander» gewannen sie letztes Jahr den Paul Grüninger Preis in der Höhe von 50 000 Franken. Das erste Mal ging dieser Preis in die Schweiz. Absicht des Vereins: Das Zusammenleben der Gemeinde, deren Bewohner bis zu einem Viertel aus illegal anwesenden Ausländern besteht, zu erleichtern. Zuerst war Guido Stirnimann wie die meisten gegen das Zentrum. Zu abgeschieden. Wir merken schnell, einige der Bewohner sind ihm ans Herz gewachsen. Er kritisiert vor allem die Aufenthaltsdauer von mehreren Jahren im Flüeli. Mit den Jahren werde man krank hier oben.EpilogVor sieben Jahren sind die ersten abgewiesenen Asylanten nach Valzeina gekommen. Ein Aufschrei hallte durch das Dorf und weit darüber hinaus. Heute ist die grosse Empörung verflogen. Die Asylanten leben abgeschnitten von der Aussenwelt und das über Jahre. Jene aus dem Dorf verlieren das Flüeli nicht aus den Augen. Nachdenklich schlittern wir über die verschneite Strasse zurück ins Tal. Wir haben eine Ahnung davon bekommen, was es heisst, sich frei bewegen zu können.Text: Conradin Zellweger & Simon JacobyWeitere Artikel auf dieperspektive.ch oder in der Printausgabe.
-
joysunFuchurNikitadaschdryPlease mind the gapRRREVOLVE Fair Fashion & Eco Designcoco
«Ich bin ein Mensch, kein Tier.»
Das Haus «Flüeli» steht irgendwo im nirgendwo. Hoffnung, oder nur schon Beschäftigung, gibt es nicht. Die absurde Geschichte des Besuches im Ausreisezentrum für abgewiesene Asylanten. Eine Tragödie in mehreren Szenen.
Prolog
Bevor wir das Haus überhaupt sehen können, sehen wir nur weiss: Alles ist zugeschneit an diesem Nachmittag. Kurz nach Landquart montieren wir die Schneeketten, damit wir wenigstens bis ins Dorf Valzeina GR fahren können. Dort ist dann Schluss – die Strasse gleicht einer Tiefschneeroute, das Auto will nicht mehr weiter. Also laufen wir. Eine halbe Stunde den Berg hinauf. Das Dorf weit hinter uns – vor uns kommt ausser Berg, Schnee und Himmel nicht mehr viel. Dann stehen wir vor dem eingeschneiten «Flüeli». Ein ehemaliges Ferienzentrum, in dem seit 2007 Menschen leben, die kein Recht haben, sich in der Schweiz aufzuhalten – definitiv abgewiesene Asylsuchende also. Das ist der Ort, wo sie hingesteckt werden. Es ist wie im Gefängnis. Nur ein bisschen anders. Sie können zwar raus, aber da ist nichts. Ein alter Militär-Jeep steht auf dem Parkplatz, an der Haustüre warnt ein Schild vor dem Eintreten ohne Genehmigung. Da uns der Abteilungsleiter Georg Carl (SVP) vom bündnerischen Amt für «Asyl und Vollzug» eine solche Bewilligung erteilte, betreten wir das Haus. Er riecht nach Essen. Totenstille. Wir rufen. Wir klopfen an Türen.
Jetzt schnell ein Abo machen und die neue Ausgabe von dieperspektive zum Thema «Das Boot ist voll» schon bald im Briefkasten haben.
Hier für nur 30 Stutz pro Jahr.
Szene 1 – Die Beamten und das Haus
Herr Carl und sein Angestellter Herr Wüest rufen uns in ihr Büro. Herr Wüest arbeitet jeden Tag von morgens um acht bis abends um fünf im «Flüeli» – er ist der Betreuer und Unterkunftsleiter. Herr Carl schaut, dass die knallharte Asylpolitik des Regierungsrates durchgesetzt wird. 2.7% aller Asylsuchenden in der Schweiz kommen in den Kanton Graubünden – das sind 1196. Flüchtlinge, deren Gesuch abgelehnt wurde, haben drei Möglichkeiten: Entweder reisen sie freiwillig aus, sie tauchen unter, oder sie kommen ins «Flüeli». Momentan leben acht Personen im Haus – Platz hätten 40. Sie kriegen nichts ausser Nothilfe. Diese wird nicht in Geld, sondern in Sachleistungen geleistet: Essen und Unterkunft. Das Haus besteht aus vier Stockwerken. Unten ist das Büro, die Küche und der Aufenthaltsraum: Ein Sessel, ein Tisch, zwei Bänke. Sonst nichts. Im ersten, zweiten und dritten Stock wohnen die Menschen.
Szene 2 – Der Traum vom Selbstmord
Da die Insassen keine Anwesenheitsberechtigung haben, wie Herr Carl ausführt, sollen sie auch keiner Beschäftigung nachgehen dürfen. Zudem ist es eine Strategie, jene, die nicht freiwillig gehen wollen, zur Freiwilligkeit zu zwingen. Der gottverlassene Standort der Unterkunft, das Besuchsverbot, das Beschäftigungsverbot – hier will niemand sein. Einheimische aus Valzeina waren früher oft mit Spielen und Kaffee zu Besuch – Herr Carl fand das ein Stück weit kontraproduktiv. Bei einer scheint diese Strategie nicht so recht ziehen zu wollen. Die 40-jährige Äthiopierin wohnt seit vier Jahren und zwei Monaten im «Flüeli». Ihr Gesuch wurde im Jahr 2009 abgelehnt. Warum? Das weiss sie nicht. Sie habe nie Probleme gemacht. Geflohen ist sie, nachdem ihr Mann bei politischen Unruhen ermordet wurde. Träume hat sie keine mehr. Sie will etwas Sinnvolles tun, schliesslich sei sie ein Mensch, kein Tier. Zur Hälfte möchte sie sterben, die andere Hälfte zwingt sie zum Warten. Worauf? Das weiss sie nicht. Bis es soweit ist, schaut sie fern. Denn lesen und schreiben kann sie nicht.
Szene 3 – Von Tamil Tigern und Buddhismus
Beim Betreten eines Zimmers schlägt uns dicke Luft entgegen. Der 24-jährige Tibeter geht seiner Hauptbeschäftigung nach, dem Schlafen. Über den Besuch scheinen er und sein Zimmergenosse aus Sri Lanka sich trotzdem zu freuen. Obwohl sie kaum Deutsch sprechen, sprudelt es aus den beiden heraus, als hätten sie seit Wochen kein Gespräch geführt. Nichts gibt es hier zu tun, ausser eben Essen und Schlafen. Eigentlich möchte der Tibeter Fussball spielen. Aber eine Fahrt mit dem Bus nach Landquart kostet 7.50 CHF. Die Betreuer versichern uns, dass die Bewohner immer wieer nach unten fahren. Woher die Asylanten das Geld dafür nehmen, konnten Sie uns auch nicht sagen. Der hagere Flüchtling aus Sri Lanka bekommt hin und wieder Geld von Landsleuten, die er von seiner Zeit vor dem Flüeli kennt. Ohne diese Hilfe wäre er hier oben gefangen. Für grosse Sprünge reicht es trotzdem nicht. Zweimal täglich müssen die Bewohner bei der Anwesenheitskontrolle im Flüeli sein.
Szene 4 – Die Empörten
Termine rufen Herrn Carl nach Chur, wir müssen gehen. Nur unter Beobachtung dürfen sich Personen mit Bewilligung im Haus bewegen. Wieder aus dem Haus bleibt ein dumpfes Gefühl zurück. Es ist Nachmittag und die Strassen sind immer noch völlig zugeschneit. Am anderen Dorfende wohnen Herr und Frau Stirnimann. Für ihr Engagement mit dem Verein «Valzeina Miteinander» gewannen sie letztes Jahr den Paul Grüninger Preis in der Höhe von 50 000 Franken. Das erste Mal ging dieser Preis in die Schweiz. Absicht des Vereins: Das Zusammenleben der Gemeinde, deren Bewohner bis zu einem Viertel aus illegal anwesenden Ausländern besteht, zu erleichtern. Zuerst war Guido Stirnimann wie die meisten gegen das Zentrum. Zu abgeschieden. Wir merken schnell, einige der Bewohner sind ihm ans Herz gewachsen. Er kritisiert vor allem die Aufenthaltsdauer von mehreren Jahren im Flüeli. Mit den Jahren werde man krank hier oben.
Epilog
Vor sieben Jahren sind die ersten abgewiesenen Asylanten nach Valzeina gekommen. Ein Aufschrei hallte durch das Dorf und weit darüber hinaus. Heute ist die grosse Empörung verflogen. Die Asylanten leben abgeschnitten von der Aussenwelt und das über Jahre. Jene aus dem Dorf verlieren das Flüeli nicht aus den Augen. Nachdenklich schlittern wir über die verschneite Strasse zurück ins Tal. Wir haben eine Ahnung davon bekommen, was es heisst, sich frei bewegen zu können.
Text: Conradin Zellweger & Simon Jacoby Weitere Artikel auf dieperspektive.ch oder in der Printausgabe .
Weiterlesen
Luscht zum Bumsä?
Als stolzer Nicht-Single kenn ich das Gefühl nicht: Lust auf Sex zu haben, aber grad keine Frau verfügbar, in die ich rein kann.
Für alle Singles (oder Fremdgeher, tztztz) gibt es Hilfe. Wie sinnvoll diese ist, muss jede/r für sich entscheiden.
Es gibt sie, die Momente, in jenen er oder sie Lust hat auf ein Abenteuer. Auf schnellen Sex. Mit unbekannten Menschen. Es gibt es, das Problem: Wie komme ich in die Unterhose von fremden Menschen, ohne meine Komfortzone verlassen zu müssen? Meistens braucht es ja eine astronomisch grosse Überwindung (oder vielviel Alkohol), bis die schöne braunhaarige junge Frau mit den grossen, wohlgeformten Augen angesprochen wird. Wenn der ganze Mut zusammengekratzt ist und sogar der Aufreissspruch (manchmal soll es reichen, die Hand auf den Oberschenkel zu legen) sitzt, kann es immer noch passieren, dass die Auserwählte lapidar findet: «Kä Luscht.»
battle: no sex in the city? Wie ist es so mit dem Sex in der Stadt? Am nächsten Sonntag (2. März) wird diese Frage diskutiert. In einem verbalen Boxkampf. Sogar Essen gibt es dazu.
Infos und Anmeldung hier.
Was nun? Wie bleibe ich in der Komfortzone und verhindere Abfuhren schon im Voraus? Wie könnte es anders sein: Es gibt eine App! (Anm.: Natürlich gibt es verschiedenste Apps zu diesem Thema. Um meinen Freunden zu mehr Verkehr zu helfen, wähle ich hier Tinder.)
«Tinder» ist eine amerikanische Bums-App (Dating-App) und hat weltweit und täglich 2 Millionen User – über die Geschlechterverteilung ist nichts bekannt. Viele davon sind mehrmals täglich auf der App und teilen dort Menschen in ihrer Umgebung in die Kategorien «Ui näääi, wäääh», und «mmmh, jetz hani Luscht zum Bumsä» ein.
Der Reihe nach: TInder klaut Daten von Facebook (haha, Facebook, in your face. Es geht auch umgekehrt!): Name, Alter, Geschlecht, Stadt, Kontakte und ein paar Fotos. So hat jede Userin ein eigenes Profil, das alle notgeilen Menschen in der Umgebung anschauen können. Diese Userin kriegt nun Männer vorgeschlagen. Wenn er ihr gefällt, klickt sie auf «Like», wenn nicht, auf «Nope». Sobald sich zwei Personen gegenseitig geliked haben, ist es ein «Match» und die Chat-Funktion wird freigeschaltet. Ohne Dings, kein Bums.
Nie war es einfacher, nur mit attraktiven Menschen in Kontakt zu gelangen.
Und was ist die Moral der Geschichte? Wie die meisten Apps vereinfacht auch Tinder das Leben. Es wirkt wie ein Katalysator zwischen zwei Personen, die Lust auf Sex haben. Und wie alle Apps, die den Kontakt zwischen Menschen herstellen wollen, verhindert auch Tinder, dass die Bums-Partner im analogen Alltag – zum Beispiel im Tram, in der Bar… – erspäht werden.
Text: Simon Jacoby Weitere Artikel auf dieperspektive.ch oder in der Printausgabe .
Weiterlesen
Das Duell: #Ausländer
Beim Duell stehen sich in jeder Ausgabe Peter Werder und ein Mitglied der Redaktion zum Thema der Ausgabe (oder zu sonst einem aktuellen Thema) gegenüber.
Diesmal: Der linke Simon und der rechte Peter streiten über Ausländer. Ist das Boot schon voll?
Simon Jacoby
Lieber Herr Werder, haben Sie Angst vor dem schwarzen Mann?
Peter Werder
Meinen Sie den schwarzen Mann des Kindergartenspiels, von dem wir davon rennen mussten?
Simon Jacoby
Ja auch. Aber eher den, der scheinbar in Massen zu uns rennt und unser Boot angeblich zu sinken droht.
Jetzt schnell ein Abo machen und die neue Ausgabe von dieperspektive zum Thema «Das Boot ist voll» schon bald im Briefkasten haben.
Hier für nur 30 Stutz pro Jahr.
Peter Werder
Vom ersten hatte ich Angst, vom zweiten nicht – um Ihre Frage zu beantworten.
Simon Jacoby
Haben wir wieder mal den seltenen Fall, dass wir gleicher Meinung sind? Wollen Sie auch die Grenzen öffnen, so dass alle kommen können, die wollen?
Peter Werder
Wir sind wohl beide gegen die unschöne SVP Masseneinwanderungs-Initiative. Allerdings will ich nicht einfach die Grenzen öffnen – obwohl ich ja als Liberaler eigentlich für offene Grenzen sein muss. Sagen wir es so: Ich will die Grenzen so offen wie möglich haben, aber so geschlossen wie nötig, damit unser liberales System funktioniert.
Sie werden die Grenzen wohl aufmachen – weil in Ihrer Helfersyndromwelt alle verfolgt sind.
Simon Jacoby
J Nein, darum geht es doch nicht. Es geht doch darum, dass wir unseren Wohlstand auf dem Buckel der anderen erwirtschaften – wo Gewinn ist, ist auch Verlust. Zudem können wir Schweizer in jedes Land der Welt reisen und dort leben. Völlig nach unserem Bedürfnis. So ist es doch nur logisch, dass wir diese Privilegien – Wohlstand und Mobilität – auch allen anderen ermöglichen.
Peter Werder
Woher kommt diese dümmlich abgegriffene Kommunistenfloskel eigentlich – “Wo Gewinn ist, ist auch Verlust”?
Tschuldigung. Dümmlich und Kommunismus – das ist ein Pleonasmus.
Simon Jacoby
Irgendwoher muss das Geld ja kommen, das wir hier haben. Aber wir schweifen ab…
Peter Werder
Nein. Wir schweifen nicht ab. Das ist nämlich genau der Punkt: Sie bedienen ein Weltbild, in dem das schlechte Gewissen dominiert. Nur weil wir Gewinn machen, heisst das nicht, dass jemand Verlust macht. Das kann sein, muss aber nicht sein. Man kann Wert schaffen.
Schon gar nicht müssen wir deswegen die Grenzen einfach öffnen.
Simon Jacoby
Auf jeden Fall geht es jenen schlecht, die unsere Sneakers nähen. Aber wir sind uns zu schade, diese in die Schweiz zu lassen.
Peter Werder
Das ist hohle Sozialromantik. Sie müssen die Sneakers ja nicht kaufen, zumal sicher irgendwelche Sneakers auch in der Schweiz hergestellt werden (ich glaube allerdings: Nicht von Ihnen). Es ist ein Dilemma, das Sie ansprechen: Kaufen Sie Kleider aus Bangladesh, unterstützen Sie vielleicht die Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter – kaufen Sie die Kleider nicht, entziehen Sie diesen Leuten die ökonomische Grundlage. Das hat aber nichts mit der Zuwanderung zu tun.
Simon Jacoby
Im Endeffekt schon. Weil wir wollen, dass sie an unserem Wohlstand arbeiten. Wenn sie dann aber zu uns kommen wollen, machen wir die Grenzen dicht und schreien etwas von einem vollen Boot. Das kann‘s ja nicht sein.
Peter Werder
Doch, so muss es sein. Wenn sie zu uns kommen wollen, müssen sie entweder verfolgt sein und erhalten hier temporär Zuflucht (Asylwesen, humanitäre Tradition). Oder sie wollen etwas zur Wirtschaft beitragen. Dann bestreiten sie ihren Lebensunterhalt und beteiligen sich an den Kosten, die unter anderem Sie verursachen, wenn Sie studieren (wobei: Das Geld von der UBS wollen Sie glaub nicht, hm, komisch…).
Simon Jacoby
Ou ja, genau das ist der Punkt. Es ist immer an wirtschaftliche Bedingungen geknüpft. Wir aber können verreisen, wann immer wir wollen. Es ist eine unglaubliche Arroganz und eine Diskriminierung der Armen, wenn wir sie an der Grenze ablehnen (oder in einen Bunker stecken) und die Reichen mit Handkuss nehmen.
Peter Werder
Können oder wollen Sie das nicht verstehen? Wenn wir reisen, sind wir Touristen und bedienen die Exportwirtschaft des bereisten Landes. Wenn wir uns irgendwo niederlassen wollen, stellen die jeweiligen Länder Bedingungen. So müssen Sie zum Beispiel eine berufliche Qualifikation nachweisen, die Sprache sprechen oder einen Job haben.
Wollen Sie denn allen Touristen den Aufenthalt in der Schweiz bezahlen? Wollen Sie die Sozialwerke noch mehr ausbauen und Anreize schaffen, damit Ihre Sneakers-Näherin aus Bangladesh in die Schweiz kommt? Wer zahlt dann mehr Steuern – die Armen oder die Reichen der Schweiz?
Simon Jacoby
Aber muss denn das so sein? Wäre es nicht eine kulturelle Bereicherung, wenn wir alle syrischen Flüchtlinge, die wir beherbergen können, auch aufnehmen würden? Zudem, nicht alle Flüchtlinge sind arm. Es sind auch steinreiche darunter. Und auch die, welche ihren Aufenthalt selber bezahlen könnten, werden eingesperrt.
Peter Werder
Das Boot ist nicht voll. Aber wir müssen regeln, wer es betreten darf. Bei den syrischen Flüchtlingen wäre ich grosszügiger, da sind wir uns einig. Solange sie sich an unsere Gesetze halten und zum Beispiel die Frauenrechte respektieren – in diesem Punkt verschliessen Sie ja gerne die Augen…
Simon Jacoby
Genau, das Boot ist noch lange nicht voll. Und ja, Gesetze und so. Sie meinen wohl jene Gesetze, die es erlauben, dass friedliche Flüchtlinge in Bunker vor sich hin siechen müssen und nicht mal arbeiten DÜRFEN! Das sind nicht die Gesetze, an die ich mich halten würde. An alle: Willkommen in der Schweiz. Unser Geld haben wir euch geklaut. Holt es euch zurück! Text: Peter Werder & Simon Jacoby Weitere Artikel auf dieperspektive.ch oder in der Printausgabe .
Weiterlesen
Wo sind nur alle #Szenis geblieben?
Die Stadt wird überschwemmt mit Szenis. Alles Hippiekacke. Jeder versucht etwas zu sein: Induviduell und fresh und nice. Es wimmelt nur so von den Fixiefahrern und MacBook-Besitzerinnen. Alles Schwachsinn.
Wir schreiben das Jahr 2014. Seit einigen Jahren geistern Szenis durch unsere schöne Limmat-Stadt. Enge Röhrenjeans aus dem Brocki, Hornbrille auf der Nase, ein altes Rennvelo unter dem Arsch, das iPhone in der Tasche und einer von diesen Fällhaven, Fjällhavn-Rucksäcken (wie schreibt man das?) umgeschnallt.
Jetzt schnell ein Abo machen und die neue Ausgabe von dieperspektive zum Thema «Das Boot ist voll» schon bald im Briefkasten haben.
Hier für nur 30 Stutz pro Jahr.
Ja, früher waren das alle Szenis, oder Hipster. Heute nicht mehr. Es ist alles Mainstream. Eine ziemlich krasse Wendung, wenn man bedenkt, was den Szeni früher mal ausgemacht hat: die maximale Individualität. Doch diese wurde tausendmal kopiert. Durch das stetige Streben nach Einzigartigkeit fanden sich die jungen Menschen plötzlich dort wieder, wo sie niemals hin wollten: in einer Gruppe. Im Mainstream. Im Stinknormalen. Es ist nicht szenig in einen Bioladen zu gehen. Es ist nicht szenig, im Z am Park oder im Kafi Bonheur zu sitzen und mit dem MacBook irgendetwas im InDesign oder Photoshop zu basteln. Es ist normal! Es ist sogar sehr normal, wenn dazu Sneakers von New Balance getragen werden und ein Reclam-Büchlein (vielleicht eines von Foucault?) aus der Freitag-Tasche guckt. So leben wir nun mal in Zürich. Es ist völlig Mainstream, wenn junge Menschen die Zigaretten selber drehen und auf der Josefswiese oder der Bäckeranlage ihre Wurst grillieren. Es ist eine Frage des Budgets. Wir Jungen machen halt das, was wir uns leisten können. Darum gehen auch viele im Brocki ihr Outfit kaufen. Das ist nicht szenig!
Liebe #hipster jetzt rasiert Euch mal wieder und spielt Gitarre MIT Strom! #hörtdasdennnieauf
— Mäse Juen (@marceljuen) 27. Januar 2014
Die Aufzählung lässt sich endlos weiterführen:
Szeni-Quartier? Hä? Wasischlooos? Es sind gemütliche und gesellschaftlich liberale Orte in der Stadt. Junge Menschen, die sich keine Wohnung für 4000 Franken leisten können und gemütlich, in der Stadt und nach beim Alkohol wohnen wollen, müssen ja dahin: in die Kreise 3, 4 und 5. Ah was, du bist auch eine Veganerin? Du Szeni. Nein! Nur wer gesund leben möchte und dabei sogar die Umwelt schont, ist noch kein Szeni! Das ist normal. Das ist so ein bitzli Teil des Mainstreams geworden (Hinweis: Kinderkino am Samstag, 01.02. im ABS an der Hohlstrasse – mit veganem Essen). Auch Männer mit langen Haaren sind normal geworden. Wer das nicht glaubt, soll mit seinem alten Rennrad die Langstrasse rauf und runter fahren: Der Laufsteg Zürichs. Die langen Haare (geföhnt und zu einem kleinen Schwänzchen geformt) sind so was von Mainstream. Das ist nichts Spezielles! Auch wenn die Röhrenjeans (oder blaue, grüne, graue Hosen) unten ein wenig hochgeredelt sind. Das ist so was von 2009. Das ist inzwischen sogar den grossen Modemarken zu normal. Die haben das vor einigen Jahren wieder aufgegeben.
Meine Theorie ist ja, dass es nur noch Mainstream gibt. #Hipster ist sowas von Oldschool. @watson_news http://t.co/EihJwmdDBf
— Simon Jacoby (@S_Jacoby) 26. Januar 2014
Dann wäre da noch der happige Ironie-Vorwurf: Es sei typisch für Szenis, dass sie immer so ironisch seien: Vollbart, kaputte Shirts – halt aussehen, wie ein Nerd. Dazu dumme Sprüche reissen, ja nichts ernst meinen. Ja, sie sind ironisch. Aber wer denn nicht? Alle sind ironisch. Das ist Mainstream! Das ist langweilig. Es gehört dazu.
Es ist nicht szenig, wenn man als junger Stadt-Mensch viel in Bars unterwegs ist, an eine Vernissage geht und da interessiert tut, nur um sich kostenlos betrinken zu können. Es ist ganz normal. Es ist ganz normal, ein iPhone zu haben, schliesslich ist es das meistverkaufte Smartphone der Welt. Wenn man darauf den Newsletter von Ron liest und dann an einem Indie-Konzert oder einer Party im Klubi landet – janu, es ist eben so. Vielleicht gehörte Ron Orp schon zum Mainstream, als es noch Szenis gab. Ok. Nehmen wir das Beispiel der Besetzer-Parties. Oder der illegalen Parties. High-Heels sind auch da schon angekommen. Beim Binz-Umzug im letzten März waren die ganzen Party-Mädels auch dabei. Es ist ganz normal. Es ist dieser Junky-Chic-Lifestyle.
Klar ist, es gibt immer solche, die auffallen wollen. Es gibt immer die, die ein wenig ausscheren müssen. Es gibt immer die, die eigentlich zu kurze Haare für ein Schwänzchen haben, aber trotzdem eins machen (oben auf dem Kopf). Es gibt immer jene, welchen der Blog nicht reicht und die dann eine Zeitung machen müssen. Aber he, nicht mal das ist szenig. Das gibt es überall: Es soll ja sogar schwule Fussballer geben (Achtung: Ironie).
ich hab eben nem #hipster ins bein geschossen. jetzt #hopster .
— kumstkeh∞ (@lukaku17) 24. Januar 2014
Eigentlich ist es schade, dass es keine Szenis mehr gibt. Es gibt so viele davon, dass alles Mainstream geworden ist. Nicht, weil es lustig war, sich darüber lustig zu machen, obwohl man selber dazu gehörte. Es ist schade wegen der Subkultur – die fehlt. Wenn es sogar für Parties auf dem Labitzke-Areal eine Gästeliste gibt, scheint es dafür schlicht keinen Platz zu geben. Oder sie ist schon ganz woanders. An einem fernen Ort ohne Aufwertungs-Lädelis an jeder Ecke. An einem Ort, wo noch nicht alles durch-kommerzialisiert ist. An einem Ort, wo die ZHdK noch nicht das Stadtbild prägt. Vielleicht heisst dieser Ort Altstetten (hinter dem Labitzke) oder Schlieren. Vielleicht heisst dieser Ort aber auch Atlantis.
Text: Simon Jacoby Weitere Artikel auf dieperspektive.ch oder in der Printausgabe .
Weiterlesen
Der städtische Nahverkehr - eine Satire.
In einem anonymen Bürogebäude im äussersten Westen Zürichs treffen sich vier Interessenvertreter.
Jeder beansprucht für sich, eine Bevölkerungsmehrheit, und ganz nebenbei auch die Wahrheit zu repräsentieren. Die Stimmung ist angespannt.
Die Protagonisten:
A: Autofahrer F: Fussgänger V: Velofahrer Ö: ÖV-Benutzer
Jetzt schnell ein Abo machen und die neue Ausgabe von dieperspektive zum Thema «Das Boot ist voll» schon bald im Briefkasten haben.
Hier für nur 30 Stutz pro Jahr.
A. ergreift als erster das Wort:
A.: «Spurabbau, Parkplatzklau, deutsche Nummernschilder: Wir Autofahrer befinden uns in einer feindseligen Umgebung. Jede Fahrt zum Arbeitsplatz gleicht einem Spiessrutenlauf, überall lauern Fallstricke, die uns Autofahrer den Motor abwürgen wollen. Betagte Damen springen uns auf die Kühlerhaube, langhaarige Zweirad-Rowdys wechseln die Spur, ohne dies zu signalisieren und besitzen dann die Frechheit, unsere gerechtfertigte Empörung mit unflätigen Handzeichen zu quittieren. Griesgrämige Politessen lecken sich die Finger, sobald wir irgendwo viel zu enge Parkfelder ansteuern, Rotlichter, Rotlichter, Rotlichter…. (bricht in Tränen aus).»
F (unbeeindruckt vom emotionalen Ausbruch seines Vorredners): «Wem gehört denn die Stadt, bitteschön? Zwölfzylindrigen Statussymbolen oder den Menschen? Wer muss denn geschützt werden, die Frau mit dem Kinderwagen oder der stumpenqualmende Lastwagenchauffeur? Überhaupt, überall wird investiert, damit der Strassenbelag auf neuestem Stand ist – was soll das? Mit euren düsengetriebenen SUVs könntet ihr auch über Leichenhaufen fahren und ihr würdet nichts bemerken – halt, genau das macht ihr ja!»
A. (kleinlaut, sich die Tränen aus dem Gesicht wischend): «Sind imfall Hybrid-gesteuert, die meisten Geländewagen…»
V (zieht dem A. mit der Velopumpe eins über den Schädel): «Ganz Recht, F., wir mögen ja nicht immer einer Meinung sein – zum Beispiel müsst ihr auf dem Trottoir immer zu viert nebeneinander flanieren und so uns Velofahrer fies ausbremsen, und auch dass ihr manchmal einfach während des Spazierens eine Richtungsänderung einschlägt, ohne nach hinten zu schauen macht mich stinkwütend.»
F. (schreiend): «DAS TROTTOIR GEHÖRT UNS!»
V. (wischt den Einwand beiseite): «Jaja, wollen wir doch mal sehen, wo du deine Kreise ziehst, wenn du dann einmal Velo fährst. Sicher nicht auf der Strasse, aber vielleicht bist du ja auch so ein verkappter Gelegenheitsautofahrer.»
Bei F. bildet sich Schaum vor dem Mund.
V.: «Wo war ich stehengeblieben? Egal, was ich sagen will: Wieso fährt ihr Tubeln von Umweltverpester eigentlich anstatt Auto nicht einfach Tram? Oder Bus? Schweizer ÖV-Netz, rhabarber rhabarber, super ausgebaut, rhabarber rhabarber, nicht mal die Japaner rhabarber rhabarber und alle neidisch auf uns rhabarber.»
Ö.: «Spinnsch eigentlich?! Nur weil du Hippie dein Grafik-Atelier gleich um die Ecke hast, musst du jetzt nicht gegen uns Pendler agitieren! Weisst du eigentlich, wie vollgestopft die öffentlichen Verkehrsmittel zu Stosszeiten sind? Da passt keine Heunadel mehr rein!»
F. (hat sich beruhigt und wischt sich mit dem Taschentuch den Schweiss von der Stirne. Leicht schnippisch): «Es heisst Nadel im Heuhaufen und passt sowieso überhaupt gar nicht als Metapher.»
Ö.: (fährt F. an:) «Du hast gut reden als Rentner. Sitzt ja nur herum und wirst alt! Ein Arbeitskollege von mir ist letzthin mit dem Tram beim Paradeplatz eingefahren und wollte ins Büro…»
V.: «Spiesser.»
Ö. (unbeeindruckt): «… aber eine Welle von kreischenden Schulkindern drängte ihn ins Tram zurück. Auch bei den darauffolgenden Haltestellen kam mein armer Kollege nicht übers Trittbrett hinaus, obwohl er allen Fahrgästen zehn Franken versprach, würden sie ihm freies Geleit sichern!»
F.: «Spekulant!»
V.: «Turbokapitalist!»
A. (stösst den Ö. fraternisierend in die Seite, raunt mit verschwörerischer Stimme): «Bei uns würde das also imfall nicht passieren. Wir pflegen die alten Werte noch, weisst du. Wenn uns zum Beispiel ein Velofahrer schief kommt, dann heisst es: Solidarität, aber ganz sicher! Dann heisst es auch einmal: Hupkonzert! Früher, ja, da hatten wir in Bern mit der Auto-Partei sogar noch eine nationale Grösse. Das waren noch Zeiten.» (Ein verklärter Blick legt sich auf sein Gesicht.)
Die Tür geht auf und Stadtrat Wolff betritt den Raum. Er schlingert ein wenig mit den Armen und lächelt unsicher. In der Mitte des Raums bleibt er stehen und blickt nach allen Seiten. (stockend) «Ich habe ein offenes Ohr für euch alle!»
A. (spöttisch): «Da braucht’s aber mehr als ein Ohr.»
Wolff: «Ganz ehrlich Kinder, eigentlich geht’s uns allen doch recht gut. Man braucht heute nur einmal die Tageszeitung aufzuschlagen und kann sich kaum noch retten vor Meldungen über Schiffsunglücke, Umweltkatastrophen und Spionagevorwürfe.»
Ö. (völlig ausser sich): «Gaht’s no? Ich kann im Tram die Zeitung nicht mehr aufschlagen, ohne Gefahr zu laufen, jemanden die Augen auszustechen!»
F: «Musst halt nicht so grossformatige Zeitungen lesen, sind eh alles Lügner, die Journis, genau wie die Politiker.» (Seitenblick zu Wolff).
Wolff (leicht abwesend): «Ich frage mich, ob wir nicht ein paar von den gestrandeten Schwarzafrikanern im Koch-Areal einquartieren könnten, das gäbe sicher eine super Schlagzeile!»
(Ein dunkelgekleideter Berater, der sich seit längerem unbemerkt von allen im Raum aufgehalten hat, flüstert ihm etwas ins Ohr). Wolff vergräbt die Hände in den Taschen seines braunen Sakkos: «Ich muss dann auch schon wieder weiter, Militärparade abnehmen, ihr wisst schon.» (seufzt; zu seinem Berater): «So hab’ ich mir das Ganze eigentlich nicht vorgestellt.»
Wolff ab, im Hintergrund gehen sich V. und Ö. an die Gurgel. F. läuft im Kreis und murmelt unverständliche Dinge, A. wippt in seiner Chaiselongue vor und zurück, hält ein imaginäres lederüberzogenes Steuerrad in den Händen und mimmt dabei Motorengeräusche. Durch die Fenster dringt echter Verkehrslärm und bettet sich auf die Szenerie wie eine barbusige Pit-Stop-Dame auf die Kühlerhaube eines Ford Mustangs.
Text: Wiliam Stern Weitere Artikel auf dieperspektive.ch oder in der Printausgabe .
Weiterlesen
Duell: #Freiräume
Beim Duell stehen sich jeden Monat Peter Werder und ein Mitglied der Redaktion zum Thema der Ausgabe (oder zu sonst einem aktuellen Thema) gegenüber.
Diesmal: Der linke Simon und der rechte Peter streiten über Freiräume. Hat's noch Platz für Street-Art?
Simon Jacoby
Lieber Herr Werder, Freiräume sind immer wieder Teil der öffentlichen Diskussion. In diesem Jahr gab es in mehreren Städten «Tanz dich frei»-Demos. Da forderten tausende junge Menschen mehr Raum. Auch in Zürich ist das ein Problem. Die Stadt macht jeden Raum dicht und drängt so kreative junge Menschen in die Illegalität. Ich nehme an, Sie finden das nicht so gut.
Peter Werder
Das ist etwa so kreativ wie eine Tupperware-Party. Ein Pseudo-Hippster-Tsunami. «Zerstört die weissen Zäune der Agglo-Playmobil-Siedlungen».
Wo genau fehlt der Raum? Was ist genau illegal? Einfach nur eine grosse künstlerische Leere. Das sind Leute, die Farbklekse an Brücken fotografieren und das unglaublich kreativ finden - Streetart. Mein Gott, so etwas von spiessig.
Jetzt schnell ein Abo machen und die neue Ausgabe von dieperspektive zum Thema «Von A bis Sex» schon bald im Briefkasten haben.
Hier für nur 30 Stutz pro Jahr.
Simon Jacoby
Hä? Es geht dabei nie um Zerstörung. Auch wenn diese am Rande immer mal wieder vorkommt. Es geht darum, dass inzwischen alles durch organisiert und strukturiert ist. Nur was kommerziell Sinn macht, findet Platz. Und diese Verdrängung wird mit Repression durchgesetzt. Wenn Street-Art in einer Stadt keinen Platz mehr hat, wird es mir zu sauber. Das ist so was von Bünzli.
Peter Werder
Sie haben gesagt, der Raum werde dich gemacht, was kreative junge Menschen in die Illegalität treibe. Erklären Sie das.
Simon Jacoby
Die vereinfachte Jungendbewilligung in Zürich ist so ein Beispiel. Erst war es a-legal – man konnte seine Parties feiern – es war nicht erlaubt und nicht verboten. Dann konnte gratis und einfach eine Bewilligung eingeholt werden. Somit ist der Freiraum dicht – und ein Verstoss gegen die Bewilligungspflicht ist strafbar. Inzwischen kostet die Bewilligung übrigens schon was. Die besten Parties sind nicht die in einer grossen Disco, sondern die improvisierten irgendwo in der Stadt - bis das Gummi-Schrot kommt.
Peter Werder
Dann lassen Sie es doch einfach sein. Ich verstehe nicht, worin die Implikation solcher Veranstaltungen besteht. Das kommt so daher, als ob es sein MÜSSTE, eine Autonomen-Polonaise durchführen zu müssen. Sie definieren irgend eine Aktion, wollen sie ums Verrecken durchführen, und wenn Sie nicht dürfen, müssen Sie ganz fest brüele. Das ist doch Blödsinn! Lassen Sie es doch einfach sein und machen Sie was anderes. Und ob das die «besten» Parties sind, ist doch völlig subjektiv.
Simon Jacoby
Ja, genau! Das ist völlig subjektiv! Aber für ganz viele junge Menschen ist das subjektiv das Schönste! Und wir haben immer weniger Platz! Offensichtlich ist es ein immer grösser werdendes Bedürfnis, den eigenen Raum zu gestalten und darin zum Beispiel eine Party zu machen. Sie sind sonst auch immer für liberale gesellschaftliche Werte und wollen nicht alles verbieten. Hätten Sie lieber glänzend weisse Städte, in denen man keinen Schritt von der kommerziellen Norm abweichen kann?
Peter Werder
Es geht Ihnen um etwas Anderes. Diese Party-Diskussion ist eine Stellvertreter-Diskussion. Sie wollen das System kritisieren, indem Sie es mit Ideen konfrontieren, die darin keinen Platz haben. Ihnen reichen die bestehenden Anlässe nicht, Sie möchten noch mehr Anlässe. Und zwar in aller ent-kommerzialisierter Freiheit bewilligungsfrei. Das ist 80er und pubertär, es ist inhaltsleer und ein Sturm im Chaotenwasserglas. Als ob ein solcher Anlass per se eine Qualität hätte. Völliger Quatsch!
Simon Jacoby
Ja genau, es geht um Ideen, die keinen Platz haben im System. Es geht nicht darum, noch mehr Anlässe zu haben. Die Unzufriedenheit über das Starre und Langweilige mündet halt darin, dass die Freiräume einfach genommen werden. Diese sind weder inhaltsleer, noch ein Sturm im Wasserglas. Es sollte für alle Platz haben. Wenn das nicht geht, dann wird der Platz halt genommen. Und das wäre auch gar nicht so schlimm, wenn das «System» nicht immer mit Repression reagieren würde.
Peter Werder
Nein, das ist eben genau der Denkfehler. In einem funktionierenden System hat es nicht Platz für alles. Es steckt immer ein bisschen Verzicht drin. Unser System ist zum Beispiel eines der Freisten und die Repression ist harmlos. Ja, harmlos! Gehn Sie mal nach Weissrussland mit Ihrer 1. Mai-Chilbi. Ein gutes System - und unser System ist ein Gutes - bietet Entfaltungsmöglichkeit für möglichst viele Menschen. Das geht nur, wenn man auch mal verzichtet. Sie zum Beispiel müssten darauf verzichten, am Bellevue eine Party zu feiern. Sie können aber eine Location mieten und dort die gleiche Party feiern. Wo liegt das Problem?
Simon Jacoby
Dass immer alles gemietet werden muss. Dass immer überall eine Bewilligung nötig ist! Das ist das Problem. Wem gehört denn eigentlich die Schweiz?! Dem Apparat oder den Menschen? Die Party am Bellevue stört, das gebe ich ja zu. Der Binz-Umzug hat vielleicht ein Bitzli gestört. Aber ein Fest im alten Güterbahnhof? Oder eine Demo mit 200 Personen?
Peter Werder
Eine Location mieten Sie deswegen, weil Sie dann sicher sein können, dass nicht schon jemand anderes dort ist. Stellen Sie sich vor, es würde gleichzeitig der Club der Linken-Hasser ein Fest feiern, oder der Nordkoreanische Kulturverein. Oder der Chüngelizüchter Verein. Wobei - da hätten Sie dann in etwa den gleichen Party-Faktor... Text: Simon Jacoby und Peter Werder. Weitere Artikel auf dieperspektive.ch oder in der Printausgabe .
Weiterlesen