Zurück
Frau_Bitterboes
Frau_Bitterboes
FreeÖppis mit Medien. Ausgebildete Schauspielerin. Schreiberlingin. Reisefüdli. Crazy Cat Lady.
Meine Stadt
Zürich
Follower
138
Frau Bitterbös 1: Hallo, Friends! Die Welt ist schlecht oder eine Züri-Tussi Mitte 30 geht mit dem Leben um
Letzthin fahre ich mit dem Velo auf der nächtlichen Langstrasse zu diesem 24-Stunden-Shop, der immer sämtliche hungrigen und durstigen Nachtschwärmer anzieht. Ich brauche dringend Zucker. Ich parkiere mein Velo also direkt vor dem Schaufenster des Shops und schliesse es ab. Neben mir tut es mir ein anderer gleich, wir richten uns gleichzeitig von unseren Kettenschlössern auf und unsere Blicke treffen sich kurz.Ich erkenne ihn. Gut, mir fällt sein Name nicht grad ein, aber ich erkenne ihn.Er mich nicht. Jedenfalls geht er wortlos an mir vorbei. Mit der Schokolade zu Hause logge ich mich sogleich auf meinem Laptop ein, denn ich weiss: der Typ und ich, wir sind Facebook-Freunde.Ah, da ist er, genau! Wie konnte ich den Namen nur vergessen! Vor noch nicht so langer Zeit hatten sich eine Freundin und ich mit diesem netten Herrn so einige Zürcher Nächte um die Ohren geschlagen. Sie kam ihm dabei etwas näher als ich. Jetzt verbindet sie nicht mehr allzu viel mit ihm. Und mich gar nur noch Facebook.Krass, nicht, diese modern times? Man ist verbunden auf einem Online-Portal, auch wenn man sich im realen Leben nicht mal mehr grüsst. Gut, man kann sich natürlich einfach "unfrienden". Aber das gilt als ziemlich unhöflich.Egal, nach diesem nächtlichen Treffen an der Langstrasse ist es wohl mal Zeit, meine Liste an Facebook-Freunden durchzugehen. Da wäre also A. Vor x Jahren kennengelernt, irgendwann in den frühen Morgenstunden in einem Zürcher Club, der heute längst geschlossen ist. Ein einziges Mal hab ich mit dem geredet. Trotzdem weiss ich, dass er mittlerweile Vater ist. Irgendwie herzige Fotos das, den kann ich nicht unfrienden, das bring ich nicht übers Herz. Oh, und hier B. Mit der war ich mal in der Schule. Seither habe ich sie nie mehr live gesehen, weiss aber, dass sie heute Mitglied einer bürgerlichen Partei ist. Daraus macht sie in ihren Posts auch keinen Hehl und nervt regelmässig mit konservativer Propaganda. Aber ich weiss nicht, die gemeinsame Schulzeit verbindet doch irgendwie... C. Wir waren mal kurz Arbeitskollegen. Ich fand ihn einen Riesen-Löli. Wieso also sind wir eigentlich überhaupt Friends? Hmmm... Comon, jetzt mach schon, Bittersüss, drück den Button! Ok, unfriended! Der D nervt auch regelmässig. Jeden Tag tausende Posts über sein langweiliges Leben. "Hallo, ich esse grad das, ich kucke grad diese Serie, ich bin grad in den Ferien." Dazu unzählige schlechte Hipster-Selfies, die von seinen genauso langweiligen Hipster-Friends fleissig geliked werden. Naja, der tut mir irgendwie Leid, eine Unfriendung ist für den wohl eine persönliche Niederlage, eine Demütigung, ein Versagen. Den behalt ich mal lieber, der legt sich sonst noch vor den Zug... Oh Gott, die E! Hält sich für unentbehrlich für diese Welt! Ich weiss ALLES über ihr Berufs- und Familienleben, weil es ist ja sooooooo speziell, unglaublich! Mein Lieblings-Foto von ihr ist das Ultraschall-Bild ihres ungeborenen Babys (gleich nach dem vom Hochzeitskuss). In 15 Jahren wird ihr ihre Tochter eins in die Fresse hauen, so wegen Datenschutz und so. Himmel, das Ganze ist so stupide, dass es schon fast wieder Kult ist. Wir bleiben Friends. Dass die F gaaaaaanz dolle verliebt ist, weiss ich auch schon seit Jahren. Und wie das aussieht, wenn sie mit ihrem Typen auf dem Sofa knuddelt. Oder im Meer badet. Oder seine Eltern besucht. Oder ihm zum Geburtstag gratuliert. Ich würde sie soooo gerne schlagen - äh! - unfrienden, aber leider treffe ich sie regelmässig im realen Leben. Das könnte peinlich werden, deshalb lass ich es. Scheisse. G, H und I. Verflossene Liebschaften. Wer weiss, kann man ja vielleicht irgendwann mal noch brauchen. Behalt ich also lieber. Ausserdem hab ich ja auch meinen Stolz. Einen Typen aus Facebook schmeissen, weil wir uns getrennt haben? Dann glaubt der ja wahrscheinlich noch, mir läge was an dem! YOU WISH!! J, K, L und M sind Geschwister und Freunde von Ex-Freunden. Hab ich überhaupt keinen Bezug mehr zu denen, aber naja, sie haben ja schliesslich nichts dafür, gingen meine Beziehungen in die Brüche. Auch behalten. Ok, magere Bilanz. Grad mal eine einzige Unfriendung. Hab wohl einfach ein zu grosses Herz.Jetzt sind auf meinem Profil also immer noch mehr als 300 Facebook-Friends übrig. Cool, ich muss ja unglaublich beliebt sein! Pure Love! Mir geht's super - virtuell.Hmmm, weiss nicht. Irgendwie wären mir so Gespräche face to face und drei Küsschen und ein gemeinsamer Martini bianco und so viel lieber.N, den Nachtschwärmer vor dem 24-Stunden-Shop an der Langstrasse, unfriende ich deshalb auch nicht. Das nächste Mal, wenn wir uns im realen Leben treffen, werd ich ihn ansprechen, nehm ich mir vor. "Hey, wir haben uns im Fall auf Facebook geadded, wir kennen und mögen uns also, darum: Hoi, wie geht's?"
- Züri-Blog von Frau Bitterbös, Maxim Theater Zürich (2)
Züri-Blog von Frau Bitterbös
Maxim Theater Zürich
Zur Zeit arbeiten wir an einem neuen Stück, zusammen mit dem Lehrhaus Zürich. Première ist voraussichtlich im November 2015.
-
ToastydamarakuhnR-Blueevelineleistpatriciafurrerfrida_zhAlice im WunderlandandreahamidaTheMadHatterazaninClaudiaRosaRota
-
- Der schönste Ort in der Stadt:
- Mein Bett.
Öppis mit Medien. Ausgebildete Schauspielerin. Schreiberlingin. Reisefüdli. Crazy Cat Lady.
- Der schönste Ort in der Stadt:
- Mein Bett.
- An diesem Ort kann ich mich am besten entspannen:
- In meinem Bett.
- Meine Lieblingsbar:
- Mein Bett.
- Da nehme ich noch einen Schlummi:
- In meinem Bett.
Frau Bitterbös 1: Hallo, Friends! Die Welt ist schlecht oder eine Züri-Tussi Mitte 30 geht mit dem Leben um
Letzthin fahre ich mit dem Velo auf der nächtlichen Langstrasse zu diesem 24-Stunden-Shop, der immer sämtliche hungrigen und durstigen Nachtschwärmer anzieht. Ich brauche dringend Zucker. Ich parkiere mein Velo also direkt vor dem Schaufenster des Shops und schliesse es ab. Neben mir tut es mir ein anderer gleich, wir richten uns gleichzeitig von unseren Kettenschlössern auf und unsere Blicke treffen sich kurz.
Ich erkenne ihn. Gut, mir fällt sein Name nicht grad ein, aber ich erkenne ihn.
Er mich nicht. Jedenfalls geht er wortlos an mir vorbei.
Mit der Schokolade zu Hause logge ich mich sogleich auf meinem Laptop ein, denn ich weiss: der Typ und ich, wir sind Facebook-Freunde.
Ah, da ist er, genau! Wie konnte ich den Namen nur vergessen! Vor noch nicht so langer Zeit hatten sich eine Freundin und ich mit diesem netten Herrn so einige Zürcher Nächte um die Ohren geschlagen. Sie kam ihm dabei etwas näher als ich. Jetzt verbindet sie nicht mehr allzu viel mit ihm. Und mich gar nur noch Facebook.
Krass, nicht, diese modern times? Man ist verbunden auf einem Online-Portal, auch wenn man sich im realen Leben nicht mal mehr grüsst. Gut, man kann sich natürlich einfach "unfrienden". Aber das gilt als ziemlich unhöflich.
Egal, nach diesem nächtlichen Treffen an der Langstrasse ist es wohl mal Zeit, meine Liste an Facebook-Freunden durchzugehen.
Da wäre also A. Vor x Jahren kennengelernt, irgendwann in den frühen Morgenstunden in einem Zürcher Club, der heute längst geschlossen ist. Ein einziges Mal hab ich mit dem geredet. Trotzdem weiss ich, dass er mittlerweile Vater ist. Irgendwie herzige Fotos das, den kann ich nicht unfrienden, das bring ich nicht übers Herz.
Oh, und hier B. Mit der war ich mal in der Schule. Seither habe ich sie nie mehr live gesehen, weiss aber, dass sie heute Mitglied einer bürgerlichen Partei ist. Daraus macht sie in ihren Posts auch keinen Hehl und nervt regelmässig mit konservativer Propaganda. Aber ich weiss nicht, die gemeinsame Schulzeit verbindet doch irgendwie...
C. Wir waren mal kurz Arbeitskollegen. Ich fand ihn einen Riesen-Löli. Wieso also sind wir eigentlich überhaupt Friends? Hmmm... Comon, jetzt mach schon, Bittersüss, drück den Button! Ok, unfriended!
Der D nervt auch regelmässig. Jeden Tag tausende Posts über sein langweiliges Leben. "Hallo, ich esse grad das, ich kucke grad diese Serie, ich bin grad in den Ferien." Dazu unzählige schlechte Hipster-Selfies, die von seinen genauso langweiligen Hipster-Friends fleissig geliked werden. Naja, der tut mir irgendwie Leid, eine Unfriendung ist für den wohl eine persönliche Niederlage, eine Demütigung, ein Versagen. Den behalt ich mal lieber, der legt sich sonst noch vor den Zug...
Oh Gott, die E! Hält sich für unentbehrlich für diese Welt! Ich weiss ALLES über ihr Berufs- und Familienleben, weil es ist ja sooooooo speziell, unglaublich! Mein Lieblings-Foto von ihr ist das Ultraschall-Bild ihres ungeborenen Babys (gleich nach dem vom Hochzeitskuss). In 15 Jahren wird ihr ihre Tochter eins in die Fresse hauen, so wegen Datenschutz und so. Himmel, das Ganze ist so stupide, dass es schon fast wieder Kult ist. Wir bleiben Friends.
Dass die F gaaaaaanz dolle verliebt ist, weiss ich auch schon seit Jahren. Und wie das aussieht, wenn sie mit ihrem Typen auf dem Sofa knuddelt. Oder im Meer badet. Oder seine Eltern besucht. Oder ihm zum Geburtstag gratuliert. Ich würde sie soooo gerne schlagen - äh! - unfrienden, aber leider treffe ich sie regelmässig im realen Leben. Das könnte peinlich werden, deshalb lass ich es. Scheisse.
G, H und I. Verflossene Liebschaften. Wer weiss, kann man ja vielleicht irgendwann mal noch brauchen. Behalt ich also lieber. Ausserdem hab ich ja auch meinen Stolz. Einen Typen aus Facebook schmeissen, weil wir uns getrennt haben? Dann glaubt der ja wahrscheinlich noch, mir läge was an dem! YOU WISH!!
J, K, L und M sind Geschwister und Freunde von Ex-Freunden. Hab ich überhaupt keinen Bezug mehr zu denen, aber naja, sie haben ja schliesslich nichts dafür, gingen meine Beziehungen in die Brüche. Auch behalten.
Ok, magere Bilanz. Grad mal eine einzige Unfriendung. Hab wohl einfach ein zu grosses Herz.
Jetzt sind auf meinem Profil also immer noch mehr als 300 Facebook-Friends übrig. Cool, ich muss ja unglaublich beliebt sein! Pure Love! Mir geht's super - virtuell.
Hmmm, weiss nicht. Irgendwie wären mir so Gespräche face to face und drei Küsschen und ein gemeinsamer Martini bianco und so viel lieber.
N, den Nachtschwärmer vor dem 24-Stunden-Shop an der Langstrasse, unfriende ich deshalb auch nicht. Das nächste Mal, wenn wir uns im realen Leben treffen, werd ich ihn ansprechen, nehm ich mir vor. "Hey, wir haben uns im Fall auf Facebook geadded, wir kennen und mögen uns also, darum: Hoi, wie geht's?"
Weiterlesen
Liebst du mich eigentlich
Hmmm, ich bin auch der Meinung, dass man sich nicht ständig alles sagen muss in zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Gefühl sollte sprechen. Aber wenn man dann tatsächlich mal nach den berühmten drei Worten fragt und zur Antwort kommt: "Ich halte ja schliesslich Händchen mit dir", dann wäre ich also auch enttäuscht!! Das ist für mich eine etwas sehr seltsame und leider auch ziemlich oberflächliche Auffassung von Liebe. Hast du dir vielleicht schon mal überlegt, warum du das deine Freundin überhaupt gefragt hast? Etwa, weil du nicht richtig glauben kannst, dass sie dich liebt, weil ihre Körpersprache, das Gefühl, das du ihr gegenüber hast, dir das Gegenteil sagen? Wenn ja, dann denke ich leider, dass grundsätzlich etwas in eurer Beziehung nicht stimmt. Und mal ganz ehrlich: liebst DU denn deine Freundin? Redet doch einfach offen miteinander. Klare Kommunikation, auch wenn noch so schmerzlich, ist das A und O in allen Belangen des Lebens. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Ja, und wo sind denn wohl all die anderen Töchter, was glaubst du denn? Es schreiben dir hier doch einige! :-) Viel Glück!
mitdiskutieren
Bitter/Bös: Der Hafenkran ist an allem schuld: Alles hat zwei Seiten oder zwei Freundinnen Mitte 30 gehen mit dem Leben um
Frau Bös steht am Limmatquai neben dem Hafenkran. Aus Rostock, schon ziemlich baufällig und 60'000 Franken teuer. Er ist DAS Hassobjekt der Zürcher zur Zeit, denn lange hat sich die Stadt über dieses sogenannte Kunstobjekt gestritten, jetzt wurde es unter viel Kritik doch noch aufgestellt. Der Hafenkran ist das neue Feindbild all jener, die zu wissen glauben, was schön und was hässlich ist, was Kunst und was nicht, und wie man Geld besser investieren könnte. Was auch gerade Schlimmes und Schlechtes in der Limmatstadt passiert: der Hafenkran aus Deutschland ist sicher schuld daran.
Frau Bös sieht mit einer Mischung aus Besorgnis und Häme hinauf zum Arm des grünen Ungetüms, aber nicht, weil das rostige Ding so umstritten ist, sondern weil dort oben Frau Bitter sitzt. Diese bläst gerade eine Schwimmhilfe in der Form eines Flugzeugs auf.
"Ok, Monika", ruft ihr Frau Bös von weit unten her zu, die Hände vor ihren Lippen zu einem Trichter geformt, "du willst das also wirklich durchziehen, ja? Findest du das nicht ein bisschen übertrieben?"
Frau Bitter schüttelt energisch den Kopf, ihr brauner Pferdeschwanz tanzt im Wind. "Auf gar keinen Fall! Wenn man etwas verändern will, dann muss man auch mal was wagen! Ich habe beschlossen, nicht nur immer hintenrum zu motzen, wenn mich was stört, sondern ganz vorne mitzukämpfen!!" Sie pustet noch dreimal in das Ventil des Gummifliegers, schliesst es dann und klemmt sich den Flieger so gut es geht zwischen die Beine, die links und rechts vom rostigen Hafenkran-Arm baumeln. Dann klaubt sie aus ihrer Umhängetasche eine zusammengerollte Flagge mit dem Logo der JUSO.
"Also, du bist GEGEN den Hafenkran, GEGEN die neuen Gripen-Kampfjets und FÜR den Mindestlohn?", Frau Bös verschränkt ihre Arme vor der Brust und schaut stirnrunzelnd zu ihrer Freundin hinauf.
"Ganz genau!"
"Für das gibt es diese Formulare, auf denen man das gewünschte Kästchen ankreuzt, und sie dann in ein Couvert steckt und in den Briefkasten wirft. Ganz einfach. Das nennt man Demokratie. Kännsch?"
Frau Bitter rutscht langsam und vorsichtig auf dem eisernen Gestänge nach vorne, immer weiter über die Limmat. Dafür hat sie sich einen Flügel des Gummifliegers zwischen die Zähne gesteckt, die Flagge baumelt von ihrem Handgelenk, während sie sich krampfhaft am Metall zwischen ihren Beinen festklammert. "As aich nich!! Aschtingen kun och ae, aer ang usch at on ain... " Frau Bös unterbricht sie: "Ich verstehe kein Wort, Monika! Nimm den scheiss Gripen aus dem Mund!"
Frau Bitter klemmt sich das Flugzeug unter den linken Arm. "Ich habe gesagt: Das reicht nicht! Abstimmen tun doch alle, aber man muss halt schon auch mal ein bisschen mehr Mumm und Fantasie zeigen, wenn man eine Meinung hat und diese kundgeben will! Das ist WAHRE Demokratie!" Sie versucht, die Mindestlohn-Flagge am Ende des Krans festzumachen, ohne dabei den aufblasbaren Gripen unter ihrem Arm zu verlieren. "Das kann doch wohl nicht sein: über eine halbe Million Franken für einen alten, verlotterten, potthässlichen Hafenkran, den in Deutschland niemand mehr will und der in Zürich nichts anderes tut als das Limmatquai verschandeln! Und 10 Milliarden Franken für 22 schwedische Kampfjets, die sonst auch keiner will und mit denen wir eh immer noch keine Armee der Welt schlagen könnten! Und das Ganze sollen wir mit unseren Steuern bezahlen, ohne anständig zu verdienen?? Das finde ich eine Sauerei! Deshalb sage ich: ich scheisse auf diesen Hafenkran (sie rutscht unanständig mit ihrem Gesäss auf dem Gestänge auf und ab), ich versenke den verdammten Gripen (sie schmeisst den Gummiflieger schwungvoll hinunter ins Wasser) und bestehe auf einen Mindestlohn (sie beugt sich hinunter und lockert den Knoten an der Flagge, diese rollt sich auf und ein grosses, rotes JA ZUM MINDESTLOHN wird sichtbar)!" Allerdings verliert Frau Bitter vor lauter Rumfingern an der Flagge ihr Gleichgewicht, rudert heftig, aber vergeblich mit den Armen und kippt dann schreiend vom Hafenkran. Sie platscht mit dem Gesäss voran in die eisig kalte Limmat, und taucht ein paar Sekunden später wieder auf, eifrig nach Luft schnappend, und in Panik mit allen Vieren rudernd, der Pferdeschwanz klebt ihr über den Augen. Sie ist keine gute Schwimmerin.
Frau Bös weiss das und rennt erschrocken zwischen die Beine des Hafenkrans, ihre Stimme ist schriller den je: "Der Gripen, Monika, der Gripen!!!" Sie zeigt aufgeregt auf den aufblasbaren Flieger, der nur ein paar Meter vor ihrer Freundin in der Limmat treibt. Frau Bitter paddelt auf ihn zu, greift ihn sich und zieht sich bäuchlings auf den Gummi-Gripen hinauf. Wie ein Frosch stemmt sie sich mit den Hinterbeinen durch die Fluten, in Richtung rettendes Limmatquai. Frau Bös folgt ihr stromabwärts bis zu einer kleinen Plattform, die über das Wasser ragt. Dort kniet sie sich hin, und reicht Frau Bitter die Hand, die sich erleichtert aufstöhnend daran festklammert.
"Deine Auffassung von Demokratie ist ziemlich anstrengend und gefährlich", ächzt Frau Bös, als sie ihre Freundin mit viel Mühe an Land hievt. "Und ausserdem war deine Aktion ziemlich für die Katz. Denn wenn ich das richtig sehe, wurde dir dein geliebter Mindestlohn da oben zum Verhängnis, aber der verhasste Gripen-Jet hat dir das Leben gerettet!"
Frau Bitter liegt erschöpft auf dem Boden, immer noch bäuchlings, patschnass und zitternd vor Kälte, mit ihrem linken Arm umklammert sie immer noch den aufblasbaren Flieger. "Der Hafenkran", stösst sie mühsam hervor, sie hat kaum mehr Kraft zu sprechen, "der Hafenkran ist an allem schuld!"
Weiterlesen
Bitter/Bös: Todesangst: Alles hat zwei Seiten oder zwei Freundinnen Mitte 30 gehen mit dem Leben um
Frau Bitter und Frau Bös sitzen in ihrem Lieblingscafé in der Stadt Zürich. Mittlerer Preis, immer gut besucht, bester Latte Macchiato. Die beiden Freundinnen haben mal wieder ihren Lieblingsplatz am Fenster ergattert. Frau Bitter rührt gedankenverloren in ihrem Latte, von dem sie noch keinen einzigen Schluck genommen hat, und starrt mit leerem Blick auf die ersten grünen Blätter, die der Baum am Strassenrand hinter der Scheibe trägt. Der Frühling zeigt langsam sein Gesicht, die Sonne scheint, es herrschen angenehme Temperaturen. Frau Bös hätte drum eigentlich zur Abwechslung mal gute Laune. Aber es nervt sie, dass ihre Freundin so abwesend ist und sie standhaft ignoriert. Und auch das Koffein macht Frau Bös langsam hibbelig. Kein Wunder: sie nippt bereits an ihrem dritten Cappuccino, aus Langeweile. Doch irgendwann platzt ihr der Kragen.
"Monika, dein Kaffee ist im Fall schon lange kalt!".
"Ähää..." Frau Bitter wendet sich nicht einmal von den Blättern ab.
"Brad Pitt sitzt am Tisch hinter dir, hast du gesehen?"
"Hmm-mmm..."
"Oh, er kommt zu dir her!"
"..."
Frau Bös pustet sich den dunklen Pony aus der Stirn (Achtung!) und stösst hörbar Luft aus der Nase aus. Sie begreift, dass sie härtere Geschütze auffahren muss, um die Aufmerksamkeit ihres Gegenübers auf sich zu ziehen.
"Ich wollte dir noch sagen, ich bin gestern von Ausserirdischen entführt worden. Die haben so seltsame Tests mit mir gemacht und mir einen Embryo in die Gebärmutter eingepflanzt. Monika", Frau Bös beugt sich über den Tisch und nähert sich dem Gesicht ihrer Freundin, ihre Lippen berühren fast Frau Bitters Ohr, "ich bin schwanger mit einem Alien", flüstert sie geheimnisvoll.
"Ja?" Frau Bitter erwacht plötzlich aus ihrer Lethargie, aber nicht wegen des Aliens, sondern weil ihr ihre Freundin kräftig in die Ohrmuschel pustet.
"Meine Güte!!!", Frau Bös lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkt die Arme vor ihrem Oberkörper. "Wo um Himmels Willen bist du gerade, wenn ich fragen darf?!".
Frau Bitter streicht sich eine Strähne ihrer braunen, langen Wellen aus der Stirn und wirkt, als wäre sie gerade erst aus einem tiefen Schlaf erwacht.
"Ach, weisst du, mir ist einfach grad bewusst geworden, dass wir alle irgendwann mal sterben müssen."
Frau Bös zieht ihre Augenbrauen hoch. "Wie bitte?"
"Ja. Wir alle. Wir werden nicht für ewig hier sein. Was ich heute tue, spielt vielleicht schon morgen keine Rolle mehr. Weil ich dann tot bin. Das Leben ist so...", Frau Bitter schiessen die Tränen in die Augen, "...so endlich!" Sie wendet sich ab und wühlt in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Sie findet aber keines, deshalb schneuzt sie sich in die Serviette neben ihrer Kaffeetasse.
Frau Bös zieht spöttisch den rechten Mundwinkel nach oben und schüttelt langsam ihren Kopf. "Ach. Und das merkst du erst jetzt? Hättest du mich mal gefragt, ich hätte dir das schon lange gesagt. Gratuliere zu deiner Erkenntnis!"
"Ich meine das ernst, Marianne!", Frau Bitter wischt sich mit einer Ecke der Serviette eine Träne aus dem Augenwinkel, verschmiert dabei aber ihren schwarzen Eyeliner. Nun sieht sie aus, als hätte sie ein riesiges Muttermal auf de linken Lid, aber Frau Bös weist sie nicht auf das Malheur hin, sondern freut sich heimlich darüber.
"Es ist doch so", fährt Frau Bitter fort, Augen und Nase gerötet, "irgendwie werden wir alle nur geboren, um zu sterben! Es trifft jeden von uns! Das ist unausweichlich! Und es kann völlig unerwartet geschehen. Ich meine, gestern habe ich erfahren, dass so ein Typ aus meinem Büro einfach nicht mehr aufgewacht ist am Morgen. Herzversagen. 44!"
"Jep, das ist traurig. Aber eigentlich hat er Glück gehabt. Ich würde lieber so sterben wollen als irgendwann mit 95 sabbernd, in Windeln und dement an einer unheilbaren Krankheit dahinsiechen", Frau Bös nimmt den letzten Schluck Cappuccino und leckt sich den Milchschaum von den Lippen.
Frau Bitter ist empört: "Wie kannst du nur so etwas sagen! Ich meine, 44 ist doch noch viel zu jung!! Der hatte im Fall Frau und Kinder, die sind jetzt allein!"
"Stimmt. Aber dieser Moment wäre sowieso irgendwann mal gekommen. Das geht uns allen so, dass die Leute um uns herum irgendwann mal der Reihe nach wegsterben. Ausser wir sterben zuerst."
"Jetzt tu doch nicht so, als würde dich das absolut kalt lassen, Marianne! Stell dir vor, du müsstest heute sterben! Würdest du das nicht zutiefst bedauern?"
Frau Bös tut so, als würde sie tatsächlich einige Sekunden lang über ihre Antwort nachdenken, und meint dann schnippisch: "Nö. Denn ich glaube kaum dass ich als Leiche noch so etwas wie Bedauern oder Reue empfinden kann. Ich glaube sogar, ich kann dann überhaupt nichts mehr empfinden. Weil, wenn man tot ist... ist man eben tot."
"Du bist so grausam!", Frau Bitter wendet sich demonstrativ von Frau Bös ab und verbirgt ihr Gesicht in der Hand, den Ellbogen auf der Tischkante aufgestützt. Sie ist entschlossen, ihre Freundin nie wieder anzuschauen. Doch diese zeigt sich völlig unbeeindruckt von dem Versuch.
"Du solltest dich mal schnell daran gewöhnen, liebe Monika: der Tod ist kein Wunschkonzert. Und wie du es ganz richtig sagst, er holt uns ALLE ein. Wieso sich also darüber Gedanken machen?"
Frau Bitter schlägt die Beine übereinander und wippt nervös mit einem Fuss. Ihre rote Stiefelette quietscht bei jeder Bewegung ein bisschen. "Im Gegensatz zu dir habe ich halt Mitleid mit den Hinterbliebenen. Und auch mit den Toten selber. Ich finde, man kann auch vor seiner Zeit sterben, und das ist schrecklich!"
"Herrgott nochmal!", Frau Bös schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, so dass der Löffel aus ihrer Kaffeetasse springt und scheppernd auf dem Unterteller landet. "Kuck mal nach draussen!! Es ist Frühling!! Du willst also tatsächlich unbedingt JETZT mit mir über den Tod reden, während draussen alles zum Leben erwacht und spriesst und blüht??!!". Ein paar Köpfe im Café drehen sich neugierig zu den beiden Mitdreissigerinnen um, denn Frau Bös' Stimme ist wie immer, wenn sie sich aufregt, ein bisschen zu laut und schrill geworden.
Frau Bitter reagiert gar nicht erst auf die Frage, die ihr gestrllt wurde, sondern kuckt weiter schmollend auf ihre Stiefelette.
"Na gut, mir reicht's!", Frau Bös springt von ihrem Stuhl auf, so dass dieser beinahe umkippt. Sie greift nach ihrer Jacke über der Lehne und ihrer Handtasche unter dem Tisch. "Wenn du tatsächlich an diesem wunderschönen Tag Trübsal blasen und darüber sinnieren willst, ob der Tod jetzt wohl fies ist oder nicht, dann lass ich dich lieber alleine mit deinen philosophischen Auswüchsen! Und ich hoffe, auch DU wirst nach langem Grübeln noch zum Schluss kommen, dass der alte Sensenmann halt einfach Tatsache ist und dann kommt, wann ER Bock hat und nicht DU! Akzeptier endlich, dass es Dinge auf der Welt gibt, die Madame halt nicht selber bestimmen kann!!".
Wütend stürmt Frau Bös aus dem Café, alle Augenpaare folgen ihr, es ist mucksmäuschenstill geworden im Raum. Frau Bitter bleibt wie eingefroren am Tisch sitzen.
Draussen an der frischen Luft verlangsamt Frau Bös ihren Schritt und atmet tief durch. Dabei schliesst sie ihre Augen und versucht, sich zu entspannen. Nur ein paar Sekunden. Aber das durchdringende Hupen eines Autos lässt sie aufschrecken und reflexartig zur Seite springen. Nur wenige Zentimeter neben ihr kommt ein blauer VW zum Stillstand, mit quietschenden Reifen. Das Fenster auf der Fahrerseite wird heruntergekurbelt, und ein Mann mittleren Alters mit Schnauz und Brille ruft wutentbrannt: "Sag mal, spinnst du eigentlich, du blöde Kuh?? Mach doch die Augen auf!!"
Frau Bös pumpt nach diesem Schreck das Adrenalin durch die Adern, die Entspannungsphase ist vorbei. "Kuck DU doch besser, wo du hinfährst, verdammt nochmal!!! Du hättest mich beinahe umgebracht, du ARSCHLOCH!!!!".
Sie streckt dem Autofahrer ihren rechten Mittelfinger entgegen und marschiert schnurstracks auf die andere Strassenseite, die zahlreichen Flüche des Mannes ignorierend.
'Nein', denkt Frau Bös, während sie empört und schnellen Schrittes heimwärts stampft, 'nein! Dass dieser Idiot mich jetzt einfach so ins Nirvana befördert, das hätte ich nicht akzeptiert!'
Weiterlesen
Eine Züri-Tussi in Brasilien, Teil 22, FINALE: Saudades
Wenn man Portugiesisch lernt, dann stösst man früher oder später auf saudades . Das Wort lässt sich wohl am besten übersetzen mit "vermissen" oder "fehlen". "Du fehlst mir/ich vermisse dich": Eu estou com saudades de você .
Aber das Portugiesische beschreibt dabei das Gefühl an sich und nicht bloss die Handlung, so wie das andere Sprachen machen ("I miss you", "Te extraño"). Saudades ist das, was man dabei EMPFINDET, wenn man etwas vermisst, wenn einem jemand fehlt. Da gibt es wohl kein deutsches Pendant dazu, vielleicht am ehesten "Sehnsucht", aber auch das trifft es nicht ganz. Saudades ist und bleibt eine idiomatische Eigenheit des Portugiesischen. Kein Wunder: Leidenschaftlich und gefühlsbetont wie die Brasilianer sind, muss sich das wohl auch irgendwie in ihrer Sprache niederschlagen.
Am Anfang meiner Reise hat mir mal jemand gesagt: Wenn du verstehst, wie saudades sich anfühlt, dann verstehst du auch die Brasilianer.
Und ja, tatsächlich, je näher das Ende meines viermonatigen Abenteuers rückt, desto mehr verstehe ich…
Meine letzten Tage in Brasilien verbringe ich in Fortaleza, der Hauptstadt des Bundesstaats Ceará, im Nordosten des Landes.
Ein Paradies für Surfer mit und ohne Segel, denn die Windverhältnisse sollen an Fortalezas Stränden besonders günstig sein (ich verstehe leider nichts davon, ich habe in meinem Leben nur eine einzige Surfstunde genommen und dabei literweise Salzwasser geschluckt, so dass ich diesen Sport wie auch die meisten anderen wieder aufgab). Aber ich komme nicht wegen der Wellen hierher, sondern erstens, weil hier mein Flug zurück nach Zürich geht und zweitens, weil ich hier eine Freundin wiedertreffen will, die ich in Recife kennengelernt hatte. Wir erinnern uns: Es ist die Brasilianerin, deren Handy im Karnevals-Wirrwarr geklaut wurde (jaja, gemeinsame Erlebnisse schweissen aneinander). Sie ist Ärztin und in Fortaleza aufgewachsen. Sie kennt die Stadt deshalb wie ihre Westentasche und weiss genau, wo eine Züri-Tussi noch ihre letzten brasilianischen Pflichtaufgaben erledigen kann: es geht also zum Cabelereiro (die Behandlung hiess ohne Scheiss Botox capilar , es ging aber ganz ohne Spritze und meine Haare waren hinterher auch nicht gelähmt, sondern schön gesund und glänzend), zur Depilação (habt ihr euch schon mal ohne Narkose am offenen Herzen operieren lassen? Nein? Ich auch nicht, aber so fühlt sich dieses Brazilian Waxing an!!!) und zu den schmackhaftesten und riesigsten Tapiocas meines Lebens (wie war das noch mit dem brasilianischen Bikini? Den kann ich jetzt aber ganz hinten im Schrank versorgen!).
Dazwischen trinken wir Cerveja und Caipirinha am Strand und fahren mit dem Boot der schönen Küste entlang und fotografieren den Sonnenuntergang, die Ärztin hat sich nämlich extra für mich freigenommen.
Aber wer nach Fortaleza geht, der muss auch nach Jericoacoara gehen. Ok, das klingt jetzt so, als läge dieses Dörfchen gleich nebenan, aber so ist das nicht. Vier Stunden mit dem Bus weiter nördlich und dann noch anderthalb Stunden auf so einer Art Lastwagen mit Plastiksitzen, denn der letzte Rest des Weges führt über Sand und den Strand entlang, das schafft kein herkömmlicher ÖV. Aber es sollte niemand mit Rückenproblemen oder Schleudertrauma auf diesen Laster steigen - obwohl, es kommt eigentlich nicht drauf an, denn wenn man die Leiden vorher nicht hatte, hat man sie eh hinterher, so sehr holpert und ruckelt es während der Fahrt.
Jericoacoara ist neben Pipa ein weiterer kleiner Hippie-Ort, aber diesen empfinde ich nun wirklich als magisch. Das ehemalige Fischerdorf liegt inmitten von Sanddünen und an einem malerischen Strand, es kommt mir ein bisschen vor wie eine Oase in der Wüste. Überhaupt wähnt man sich eher in der Sahara denn in Brasilien, denn man geht den ganzen Tag nur auf Sand.
Und natürlich ist auch hier alles total légère und alternativ, man trägt Batik-Klamotten, ist tätowiert, kifft und verkauft selbst gebastelte Schmuckstücke. Überall wimmelt es von streunenden Hunden aller Rassen (mein Liebling war der Dackel, dessen viel zu kurze Beine nun so gar nicht gemacht waren für den ganzen Sand), die die Gäste in den Restaurants mit den treusten Blicken anbetteln oder ausgelassen am Strand toben und sich dabei auch mal erschöpft in den Schatten eines Sonnenschirms legen, obwohl es dort eigentlich gar keinen Platz mehr gäbe.
Ausflüge macht man auch hier mit dem Buggy. So erreicht man die hübschen Binnenseen, die entstehen, wenn sich das Regenwasser in den Dünen sammelt. Das seichte Wasser dort ist perfekt, um sich auf einem Stuhl oder einer Hängematte hineinzusetzen und die Seele baumeln zu lassen.
Am Abend versammeln sich alle am Strand und steigen dort auf eine hohe Sanddüne, um den Sonnenuntergang zu beobachten.
Ja, immer diese Sonnenuntergänge, ich weiss. In Brasilien sind sie halt einfach beliebt! Wo man auch hinkommt, es heisst immer: geh doch dorthin, von dort aus hast du den besten Blick auf den Sonnenuntergang. Und das machen dann auch alle und knipsen mit ihren Kameras und Smartphones drauflos, als ginge die Sonne kein weiteres Mal mehr unter. Es gibt ganze Touren, die sich nur um den Sonnenuntergang drehen, zu Land und zu Wasser. Der Sonnenuntergang wird hier inszeniert und zelebriert. Das merkte ich schon ganz am Anfang in Rio, am Strand von Ipanema. Dort klatschte die Menge jeden Abend, wenn die Sonne im Meer verschwunden war. Naja, ist ja auch eine grosse Leistung, die gewürdigt werden will.
Wie auch immer. Jericoacoara ist jedenfalls der perfekte Ort, um seine letzten Tage in Brasilien zu verbringen und beim pôr do sol so richtig tief in saudades zu versinken.
Oh, und es gibt sehr nette Leute dort. Ich habe es nämlich fertiggebracht, mein nigelnagelneues iphone 5 zu verlieren, und nur Dank eines ehrlichen Finders musste ich nicht noch einmal die Polizei mit ihren schusssicheren Westen und meine Versicherung bemühen…
Tja, und so sehr ich mich auch dagegen sträube, der Tag kommt, an dem mein Flieger Richtung Schweiz startet. Die Ärztin begleitet mich zum Flughafen. Dort will ich deprimiert auf einem Sessel vor dem Gate in einer revista blättern, aber es kommt ganz anders.
Ich möchte gar nicht detailliert ausführen, was in meinen letzten zwei Stunden in Brasilien passiert. Ich habe mich ja schon genug über unendliche Schlangen vor Kassen und das Drehkreuz im Bus ausgelassen. Kurz: es ist einfach mal wieder ein Fall von jeito brasileiro . Ein "Sie-waren-zwar-kurz-in-Argentinien-aber-es-fehlt-der-Stempel-des-brasilianischen-Zolls-also-waren-Sie-drei-Wochen-zu-lange-im-Land-und-müssen-eine-Busse-bezahlen-aber-die-können-Sie-jetzt-grad-nicht-bezahlen-weil-wir-keine-Karten-akzeptieren-und-der-Bankomat-befindet-sich-leider-ausserhalb-der-Abflughalle-da-dürfen-Sie-alleine-nicht-mehr-raus-und-obwohl-hier-fünf-Angestellte-einfach-nur-rumstehen-und-gelangweilt-auf-ihrem-Handy-tippen-haben-wir-leider-zu-wenig-Personal-um-Sie-zur-Bank-zu-begleiten-und-oh-ihre-Freundin-ist-doch-tatsächlich-extra-nochmal-an-den-Flughafen-gekommen-und-hat-Ihnen-das-Geld-gebracht-aber-leider-ist-jetzt-die-Kasse-schon-zu"-Fall.
Aber diesmal gebe ich nicht nach. Ich mache einen riesigen Aufstand und schimpfe und bezeichne alles als piada und incrível und schlage die Hände über dem Kopf zusammen und rolle mit den Augen und seufze EXTRA LAUT. Diesmal nicht, meine Lieben, diesmal gewinne ICH!! Bis zehn Minuten vor Abflug kämpfe ich um diesen doofen Stempel, denn ich bekommen muss, um Brasilien wieder legal betreten zu dürfen - und ICH SCHAFFE ES!!! Stolz, befriedigt und begleitet von zahlreichen Verwünschungen des Fortalezaschen Flughafenpersonals steige ich in meinen Flieger. STRIKE!!!!
Ja, ich verstehe jetzt die Bedeutung des Wortes, weiss, wie es sich anfühlt. Brasil, estou com saudades de você . Nein, Szenen wie die obige werden mir garantiert nicht fehlen, aber sonst alles. Meer, Strand, Samba, Forró, Carnaval, Capirinha, Açaí, Tapioca, Felicidade und vor allem meine familia brasileira und alle meine neuen Freunde, die ich hier kennenlernen durfte - und ohne die ich nur halb so viel erlebt hätte, nur halb so weit im Land gekommen wäre, nur halb so gut gegessen, getanzt und Portugiesisch gelernt und nur halb so viele Hindernissen gemeistert hätte. Estou com saudades de vocês, muito obrigada por tudo !!!
In Salvador da Bahia bin ich mal zu einer Art Priester des Candomblé gegangen (das ist nichts zum essen, das ist eine Religion), er hat mit mir das jogo de búzios gemacht, mir also sozusagen "die Muscheln geworfen". Unter anderem sah er dabei voraus, dass ich nach Brasilien zurückkehren würde, weil ich hier "noch etwas zu erledigen hätte".
Ich hoffe, Muscheln lügen nicht.
Weiterlesen
Schön und treffend geschrieben.
Erinnert mich an meine Reise nach Jeri!
Eine Züri-Tussi in Brasilien, Teil 21: Ordem e progresso 4: A copa, pra quém?
"Merkt man denn schon etwas von der Vorfreude in Brasilien auf die Fussball-WM?" - mir wurde diese Frage ja schon so oft gestellt, und jetzt will ich sie endlich einmal beantworten:
Nö.
Überrascht euch das?
Nun, ich weiss, Brasilianerinnen und Brasilianer kommen im Allgemeinen ja schon fussballbegeistert auf die Welt, das hab ich hier hautnah mitgekriegt (natürlich nicht alle, aber eine Tendenz ist schon zu spüren). Auf die Spiele freuen sich die meisten drum sicher auch. Aber eine WM ist eben nicht nur Fussball, sondern noch ganz viel anderes drumherum.
Ich habe auf meiner Reise ja doch einige Austragungsorte der Copa 2014 besucht: Rio, Manaus, Salvador, Recife, Natal und Fortaleza. Jeder Brasilianerin und jedem Brasilianer auf meinem Weg habe ich die obige Einstiegsfrage gestellt, und nie, wirklich NIE hat sie jemand mit Ja beantwortet. "Vai ser uma bagunça", fand die Mehrheit, es werde ein Chaos geben. Brasilien sei alles andere als bereit für die WM. Und ab und zu wurden auch Augen gerollt und tiefe Seufzer ausgestossen: "Vou ficar em casa!" , ich werde zu Hause bleiben.
Es ist ja jetzt auch nicht grad so, dass einem das Land die WM 2014 schon so richtig schmackhaft macht. Man darf sich nicht vorstellen, dass da überall schon Plakate hängen, so im Stil: "Im Juni ist die Copa! Das wird super!!". Es werden nirgends gratis Fussbälle verteilt, es wimmelt nicht von Ständen mit den National-Tenues, im Supermarkt sucht man vergeblich nach Copa-Schoggi, -Bier oder -Brot, die Stadions sind nicht festlich geschmückt - nope, sie sind ja noch nicht einmal fertig gebaut!
Und somit wären wir auch schon beim Grund, warum die Brasilianer noch nicht vor Vorfreude auf die WM ausflippen: Alles ist hier eine grosse Baustelle, sportlicher Grossanlass sei Dank!
Das fällt in Brasiliens Grossstädten wirklich auf, es wird überall gebaggert, gebohrt, geschaufelt, gemauert und gesperrt. Die Strassen werden ausgebessert, Gebäude verschönert oder ganz neu aus dem Boden gestampft, weitere Leitungen verlegt, U-Bahnnetze ausgebaut, Troittoire frisch gepflastert und Brückenpfeiler gestrichen. Das Land soll im Juni in neuem Glanz erstrahlen, wenn dann Fussballbegeisterte und Journalisten aus aller Welt anreisen!
Sollte denn die Zeit dazu auch wirklich reichen.
Denn wenn man hier mit Einheimischen redet, dann lächeln sie nur spöttisch und sind überzeugt, NIEMALS werde bis zur WM alles fertig sein. Gut, wenn man selber ein bisschen die Augen aufmacht, dann versteht man diese Zweifel sehr gut. Man sieht´s ja schon in den Nachrichten: Immer mal wieder kracht irgendwo in Brasilien ein Stadion während des Neubaus oder der Renovation zusammen. Knapp drei Monate vor Anpfiff stehen auch viele geplante Gebäude und Zufahrtsstrassen noch nicht (ich bin ja keine Architektin, aber ist das nicht ein bisschen knapp bemessen?), der öffentliche Transport ist das pure Chaos (ich lasse mich jetzt nicht schon wieder über die schauderlichen Busse aus), die Eröffnung der U-Bahn in der Barra von Rio wurde schon einige Male verschoben (ok, die soll zwar auch erst für die Olympischen Spiele 2016 funktionieren, aber ich mein ja nur...) und wie die gemächlichen brasilianischen Kassiererinnen und Kassierer tausende von ausländischen Gästen bedienen wollen, ohne dass die Amok laufen, ist mir schleierhaft. Übrigens nicht nur mir, auch den Brasilianern selber.
Ok, man kann jetzt sagen: Ist doch gut, bauen sie alles neu und so, davon profitiert ja dann vor allem die Bevölkerung.
Stimmt schon, aber ich finde es tieftraurig, dass die brasilianische Regierung offenbar erst Geld, Hammer und Meisel in die Hand nimmt, wenn ein sportlicher Grossanlass im Land ansteht. Einfach so kommt sie nicht auf die Idee, dabei könnten die Bürger ja auch ohne Copa und Olympia von schnellerem ÖV und besseren Strassen profitieren. Aber sie sind es der Regierung offenbar nicht wert, der Sport und der internationale Besuch aber schon. Da würde ich mich als Brasilianer ehrlich gesagt auch ein bisschen verarscht fühlen.
A copa, pra quém? Ja, für wen ist denn nun diese WM? Für das Land? Die Leute? Die Ausländer? Die Regierung? Das Image?
Dazu kommt, dass die ganze Bauerei natürlich auch erstmal wahnsinnig umständlich ist. Am deutlichsten zeigt sich das im Strassenverkehr: engarrafamento , aber immer und überall! Im Auto oder im Bus: es dauert immer viiiiieeeeeeel länger, von A nach B zu kommen, als das GPS oder der Fahrplan angeben (im Fall von meiner Busfahrt von Rio nach Bùzios grad doppelt so lang, ganze sechs Stunden anstatt drei). Am mühsamsten ist das natürlich für die Leute, die hier tagtäglich pendeln müssen. Vor allem, wenn Strassen, die gestern noch offen waren, heute plötzlich abgesperrt sind oder die Richtung wechseln, natürlich alles ohne Vorankündigung. Dann muss man sich erstmal seinen Weg neu suchen, das gleicht einer Tour durchs Labyrinth, und wenn man Pech hat, muss man die ganze Stadt zweimal umfahren oder so. Alles schon erlebt.
Im Juni während der Spiele werden dann viele Strassen für die Bewohner auch ganz geschlossen, zu Gunsten des Transports oder der Märsche der Fussballfans (viel Vergnügen dann auch, bei dieser Hitze stundenlang zum Stadion zu latschen, die Distanzen hier sind im Fall riiieeeessiiiiiiiggg!).
Nicht zuletzt kostet Bauen ja auch viel Geld. Und an einer WM kann man sowieso absurde Preise verlangen, denn sie werden ja eh bezahlt. Das hat zur Folge, dass die Lebenskosten in vielen brasilianischen Städten deutlich gestiegen sind. Waren früher die Wohnungen rund um die Stadien gut erschwinglich, kosten sie heute bis zu zehnmal so viel. In der Communidade nebenan müssen die billigen, abbruchreifen Häuser neuen und hübscheren weichen (die Gringos sollen ja nicht abgeschreckt werden), doch natürlich sind die für die Bewohner dann nicht mehr bezahlbar. Und ihr glaubt, in der Favela in Rio Schnäppchen machen zu können? Vergesst es! Sogar als verwöhnt Züri-Tussi habe ich manchmal geschluckt, als ich an der Kasse stand. Und ich möchte darauf hinweisen, dass der brasilianische Mindestlohn 700 Reais beträgt, also keine 300 Franken...
Jaja, ich weiss schon, was einige von euch jetzt denken: Miriam, du kannst ja mit Fussball eh nichts anfangen, klar wetterst du gegen die WM!
Stimmt, ich interessiere mich nicht für Fussball. Ich würde die obigen Umstände aber auch kritisieren, wenn in Brasilien die internationalen Theater-Festspiele, die panamerikanischen Windhunde-Rennen oder ein weltweiter Coiffeur-Wettbewerb stattfinden würde. Ich bin sicher nicht gegen die Fussball-WM per se, es ist völlig egal, um was für einen Grossanlass es sich handelt. Das ganze Drumherum gibt einfach immer zu denken. Und in einigen Ländern mehr als in anderen.
Nichtsdestotrotz bin ich absolut sicher, dass die Copa 2014 ein riesen Spass werden wird, sobald die ersten Mannschaften auf dem Rasen stehen. Die Brasilianer können nämlich eines am besten: im Moment leben und allen Ärger hinter sich lassen. Wenn der Ball rollt, wird gefeiert! VAMOS!!
Weiterlesen