Institut Zukunft
Institut Zukunft
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Zürich
Gegründet
2015
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«Abhängigkeiten widersprechen der Gleichheit»
Dass Arbeit immer mehr Menschen krank macht, findet die Islamwissenschaftlerin Amira Hafner-Al Jabaji alarmierend. Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen würde man in Zukunft nicht mehr fragen: Was ist dein Beruf? Sondern: Was ist deine Leidenschaft?Frau Hafner-Al Jabaji, wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen mit dem Islam vereinbar? Ich sehe zumindest nicht, wo die Idee einem islamischen Prinzip widerspricht. Daher wäre es durchaus spannend, das bedingungslose Grundeinkommen unter islamischen Wirtschaftstheorien weiter zu entwickeln. Im islamischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gilt, dass jedem Menschen das zukommen soll, was er braucht. Wie dieser Balanceakt durch staatliche Vorgaben zu erreichen ist, ist nicht vor- gegeben.Gibt es gar keine Regeln? Doch. Wichtig ist, dass der Mensch nicht dauerhaft in Abhängigkeiten von anderen geraten soll. Abhängigkeiten widersprechen der Gleichheit der Menschen und machen sie unfrei. Jemand, der sich zum Beispiel so stark verschuldet, dass er sein ganzes Leben lang die Zinsen zurückzahlen muss, und aus der Schuldenspirale nicht herauskommt, lebt in Knechtschaft. Darum sind im islamischen Bankenwesen exorbitant hohe Zinsen verboten. Der Begriff von der Bedingungslosigkeit ist eher bei der Religion als beim Staat angesiedelt. Was verstehen Sie darunter? Religiös betrachtet ist Bedingungslosigkeit ein wichtiges Prinzip. Nach dem Koran verpflichtet sich Gott gegenüber dem Menschen einseitig und damit bedingungslos zu Barmherzigkeit. Ich kann unabhängig von Lebensführung und meinen Qualitäten auf dieses Versprechen bauen. Trotzdem auferlegt uns Gott, unser Leben nach seinen Bestimmungen zu führen. Darin steckt, dass wir uns trotz und nicht wegen der Gewissheit der Barmherzigkeit in diesem Leben anstrengen sollen.In der Religion spielt auch die Familie eine wichtige Rolle. Sie sind selber Mutter von drei Söhnen. Welchen Einfluss hätte ein bedingungsloses Grundeinkommen auf solche Gemeinschaften? In der Gemeinschaft könnte das einzelne Grundeinkommen zusammen eingesetzt werden. Das fördert die Debattierkultur, den Gemeinschaftssinn und die Verantwortung. Es schafft sicher auch flachere Hierarchien in der Familie oder einer Gruppe. «Wer zahlt, befiehlt» verändert sich zu «Wer mitzahlt, befiehlt mit». Könnte ein Grundeinkommen helfen, dass wir wieder mehr aufeinander achtgeben? Ja. Denn bei uns ist Arbeit umso höher angesehen, je besser sie entschädigt ist oder je stärker sie in der Öffentlichkeit vollzogen wird. Hingegen haben Leistungen, die im Privaten und im sozialen Bereich erbracht werden, einen vergleichsweise geringen Status. Ein weiteres Problem ist, dass wir Arbeit immer mit Erwerbsarbeit gleichsetzen. Der tatsächliche Nutzen, Sinn und Gewinn wie auch der Schaden, den eine Tätigkeit für eine Gesellschaft generiert, beides steht oft nicht in angemessenem Verhältnis zur Entlöhnung und zum Status.Was müsste auf diese Erkenntnis folgen? Wir sollten uns überlegen, was der Wert von Arbeit wirklich ist. Nicht bloss rein finanzökonomisch, sondern verknüpft mit Themen wie Nachhaltigkeit, Nutzen und Schaden für andere Menschen. Das wäre ein ganzheitlicher An- satz. Tätigkeiten, die in der Gemeinschaft grossen Nutzen bringen, würden vielleicht auch mehr Ansehen geniessen, beispielsweise in der Pflege oder in der Kinderbetreuung.Nach welchen Kriterien sollte die Höhe des Grundeinkommens festgelegt werden? Ich würde das Grundeinkommen an einen klar definierten Index knüpfen, zum Beispiel an jenen von Nahrungsmittelpreisen oder Lebenshaltungskosten. So könnte man den Betrag am gegenwärtigen Preisniveau ausrichten. Interessant ist natürlich auch die Frage, wer das Grundeinkommen bekommen soll. Jede Bürgerin und jeder Bürger ab 18? Kinder auch? Alle denselben Betrag oder abgestuft? Da gibt es viele Details zu bedenken.Wem würde ein Grundeinkommen am meisten nützen? Menschen, die in einer schwierigen Lebenssituation stecken. Zum Beispiel durch Scheidung, Tod eines Partners, Invalidität oder Verlust des Ar- beitsplatzes. Sie hätten weniger Stress, wenn es ein Grundeinkommen gäbe. Trotz ihrer misslichen Lage hätten sie jederzeit ein Mindestauskommen, um das sie sonst in solchen Situationen noch zusätzlich als Bittsteller auf Sozialämtern kämpfen müssten. Das frisst viel Energie. Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen könnte man diese Energie schneller wieder auf konstruktive Dinge lenken.Menschen reagieren gegenüber der Idee eines bedingungslosen Grundein- kommens oft ablehnend. Haben Sie eine Idee, warum das so ist? Weil wir in einer individualistischen Gesellschaft leben, die stark auf Wettbewerb und Konkurrenz ausgerichtet ist. Die Idee, dass der Einzelne sein Leben selber bestimmen kann, hat auch dazu geführt, dass viel an Gemeinsinn verloren gegangen ist. Gerade in der Schweiz vermisse ich manchmal die kollektive Erinnerung an schlechte Zeiten, wie andere Länder sie kennen. Wir haben eine lange Zeit sehr gut gelebt, während es anderen Ländern in Europa schlechtging. Unser Wohlstand gibt jenen recht, die unser jetziges System für richtig und gut halten. Er geht aber auf Kosten des Gemeinsinnes, dessen Notwendigkeit viele von uns nie selbst erfahren haben.Als ich Sie fragte, ob Sie sich zum Grundeinkommen äussern wollen, ha- ben Sie sofort zugesagt. Warum? Für mich wäre ein Grundeinkommen ein Paradigmenwechsel zu unserem heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Kürzlich sah ich einen Tagesschau-Beitrag über arbeitsbedingte Krankheiten. In der Schweiz macht Arbeit offensichtlich immer mehr Menschen krank. Sogar junge Menschen sind davon betroffen. Das finde ich alarmierend. Muss man also das ganze Wirtschaftssystem ändern? Das wäre wohl ein Kraftakt. Als würde man die Titanic kurz vor dem Eisberg noch umlenken wollen. Ein Crash ist programmiert. Die Einführung eines Grundeinkommens hiesse aber, rechtzeitig die Rettungsboote hinunterzulassen, bevor wir den Eisberg rammen. Auch das ist nicht angenehm, aber die Chance, dass es gut herauskommt, ist grösser. Die Idee bedeutet auch, dass wir ein zentrales Element der Gesellschaft ganz anders gestalten, als wir es bisher gemacht haben, und damit einen Veränderungsprozess einleiten. Dieser könnte sich dann auch auf andere Ebenen von Wirtschaft und Gesellschaft auswirken.Das sichere Schiff verlassen wir aber meist nur, wenn wir dazu gezwungen werden. Wie würden Sie die Idee des Grundeinkommens bei den Menschen beliebt machen? In der Schweiz gibt es immer mehr Menschen mit kleinen Einkommen, die nicht lebenssichernd sind. Ich würde auf diese Menschen zugehen und ihnen klarmachen, was sich für sie als Individuen mit dem Grundeinkommen ändern würde. Ein Umdenken hat zum Glück ja bereits stattgefunden. Früher fragte man einander: Was würdest du machen, wenn du eine Million gewinnst? Heute fragt man: Was würdest du machen, wenn du ganz viel Zeit hättest? Sie haben zwei fast erwachsene Söhne und einen Sohn in der Primarschule. Würde ein Grundeinkommen ihren Start in ein selbständiges Leben er- leichtern? Ja. Heute müssen sie sich ständig fragen, ob das, was sie lernen, später auch ihr finanzielles Auskommen sichern wird. Es gibt heute Löhne, mit denen man keine Familie durchbringen kann. Mit einem Grundeinkommen könnten meine Söhne sich sofort stärker auf ihre Träume, Ziele und Fähigkeiten konzentrieren. So würde man in Zukunft nicht mehr fragen: Was ist dein Beruf? Sondern: Was ist deine Leidenschaft? Amira Hafner-Al Jabaji ist Mitbegründerin des «Interreligiösen Think-Tanks» und Moderatorin der Sendung Sternstunde Religion im Schweizer Fernsehen SRF. Für ihr langjähriges Engagement für den Dialog zwischen den Religionen wurde sie 2011 mit dem Anna-Göldi-Preis ausgezeichnet. Das Interview führte Nadja Schnetzler für eine Sondernummer der Zeitschrift «bref».Fotos: Laurent Burst.
«Abhängigkeiten widersprechen der Gleichheit»
Dass Arbeit immer mehr Menschen krank macht, findet die Islamwissenschaftlerin Amira Hafner-Al Jabaji alarmierend. Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen würde man in Zukunft nicht mehr fragen: Was ist dein Beruf? Sondern: Was ist deine Leidenschaft? Frau Hafner-Al Jabaji, wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen mit dem Islam vereinbar? Ich sehe zumindest nicht, wo die Idee einem islamischen Prinzip widerspricht. Daher wäre es durchaus spannend, das bedingungslose Grundeinkommen unter islamischen Wirtschaftstheorien weiter zu entwickeln. Im islamischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gilt, dass jedem Menschen das zukommen soll, was er braucht. Wie dieser Balanceakt durch staatliche Vorgaben zu erreichen ist, ist nicht vor- gegeben.
Gibt es gar keine Regeln? Doch. Wichtig ist, dass der Mensch nicht dauerhaft in Abhängigkeiten von anderen geraten soll. Abhängigkeiten widersprechen der Gleichheit der Menschen und machen sie unfrei. Jemand, der sich zum Beispiel so stark verschuldet, dass er sein ganzes Leben lang die Zinsen zurückzahlen muss, und aus der Schuldenspirale nicht heraus kommt, lebt in Knechtschaft. Darum sind im islamischen Bankenwesen exorbitant hohe Zinsen verboten.
Der Begriff von der Bedingungslosigkeit ist eher bei der Religion als beim Staat angesiedelt. Was verstehen Sie darunter? Religiös betrachtet ist Bedin gungslosigkeit ein wichtiges Prinzip. Nach dem Koran verpflichtet sich Gott gegenüber dem Menschen einseitig und damit bedingungslos zu Barmherzigkeit. Ich kann unabhängig von Lebensführung und meinen Qualitäten auf dieses Versprechen bauen. Trotzdem auferlegt uns Gott, unser Leben nach seinen Bestimmungen zu führen. Darin steckt, dass wir uns trotz und nicht wegen der Gewissheit der Barmherzigkeit in diesem Leben anstrengen sollen.
In der Religion spielt auch die Familie eine wichtige Rolle. Sie sind selber Mutter von drei Söhnen. Welchen Einfluss hätte ein bedingungsloses Grund einkommen auf solche Gemeinschaften? In der Gemeinschaft könnte das einzelne Grundeinkommen zusammen eingesetzt werden. Das fördert die Debattierkultur, den Gemeinschaftssinn und die Verantwortung. Es schafft sicher auch flachere Hierarchien in der Familie oder einer Gruppe. «Wer zahlt, befiehlt» verän dert sich zu «Wer mitzahlt, befiehlt mit».
Könnte ein Grundeinkommen helfen, dass wir wieder mehr aufeinander achtgeben? Ja. Denn bei uns ist Arbeit umso höher angesehen, je besser sie entschädigt ist oder je stärker sie in der Öffentlichkeit vollzogen wird. Hingegen haben Leistungen, die im Privaten und im sozialen Bereich erbracht werden, einen vergleichsweise geringen Status. Ein weiteres Problem ist, dass wir Arbeit immer mit Erwerbsarbeit gleichsetzen. Der tatsächliche Nutzen, Sinn und Gewinn wie auch der Schaden, den eine Tätigkeit für eine Gesellschaft generiert, beides steht oft nicht in angemessenem Verhältnis zur Entlöhnung und zum Status.
Was müsste auf diese Erkenntnis folgen? Wir sollten uns überlegen, was der Wert von Arbeit wirklich ist. Nicht bloss rein finanzökonomisch, sondern verknüpft mit Themen wie Nachhaltigkeit, Nutzen und Schaden für andere Menschen. Das wäre ein ganzheitlicher An- satz. Tätigkeiten, die in der Gemeinschaft grossen Nutzen bringen, würden vielleicht auch mehr Ansehen geniessen, beispielsweise in der Pflege oder in der Kinderbetreuung.
Nach welchen Kriterien sollte die Höhe des Grundeinkommens festgelegt werden? Ich würde das Grundeinkommen an einen klar definierten Index knüpfen, zum Beispiel an jenen von Nahrungsmittelpreisen oder Lebenshaltungskosten. So könnte man den Betrag am gegenwärtigen Preisniveau ausrichten. Interessant ist natürlich auch die Frage, wer das Grundeinkommen bekommen soll. Jede Bürgerin und jeder Bürger ab 18? Kinder auch? Alle denselben Betrag oder abgestuft? Da gibt es viele Details zu bedenken.
Wem würde ein Grundeinkommen am meisten nützen? Menschen, die in einer schwierigen Lebenssituation stecken. Zum Beispiel durch Scheidung, Tod eines Partners, Invalidität oder Verlust des Ar- beitsplatzes. Sie hätten weniger Stress, wenn es ein Grundeinkommen gäbe. Trotz ihrer misslichen Lage hätten sie jederzeit ein Mindestauskommen, um das sie sonst in solchen Situationen noch zusätzlich als Bittsteller auf Sozialämtern kämpfen müssten. Das frisst viel Energie. Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen könnte man diese Energie schneller wieder auf konstruktive Dinge lenken.
Menschen reagieren gegenüber der Idee eines bedingungslosen Grundein- kommens oft ablehnend. Haben Sie eine Idee, warum das so ist? Weil wir in einer individualistischen Gesellschaft leben, die stark auf Wettbewerb und Konkurrenz ausgerichtet ist. Die Idee, dass der Einzelne sein Leben selber bestimmen kann, hat auch dazu geführt, dass viel an Gemeinsinn verloren gegangen ist. Gerade in der Schweiz vermisse ich manchmal die kollektive Erinnerung an schlechte Zeiten, wie andere Länder sie kennen. Wir haben eine lange Zeit sehr gut gelebt, während es anderen Ländern in Europa schlechtging. Unser Wohlstand gibt jenen recht, die unser jetziges System für richtig und gut halten. Er geht aber auf Kosten des Gemeinsinnes, dessen Notwendigkeit viele von uns nie selbst erfahren haben.
Als ich Sie fragte, ob Sie sich zum Grundeinkommen äussern wollen, ha- ben Sie sofort zugesagt. Warum? Für mich wäre ein Grundeinkommen ein Paradigmenwechsel zu unserem heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Kürzlich sah ich einen Tagesschau- Beitrag über arbeitsbedingte Krankheiten. In der Schweiz macht Arbeit offensichtlich immer mehr Menschen krank. Sogar junge Menschen sind davon betroffen. Das finde ich alarmierend.
Muss man also das ganze Wirtschafts system ändern? Das wäre wohl ein Kraft akt. Als würde man die Titanic kurz vor dem Eisberg noch umlenken wollen. Ein Crash ist programmiert. Die Einführung eines Grundeinkommens hiesse aber, rechtzeitig die Rettungsboote hinunterzulassen, bevor wir den Eisberg rammen. Auch das ist nicht angenehm, aber die Chance, dass es gut herauskommt, ist grösser. Die Idee bedeutet auch, dass wir ein zentrales Element der Gesellschaft ganz anders gestalten, als wir es bisher gemacht haben, und damit einen Veränderungsprozess einleiten. Dieser könnte sich dann auch auf andere Ebenen von Wirtschaft und Gesellschaft auswirken.
Das sichere Schiff verlassen wir aber meist nur, wenn wir dazu gezwungen werden. Wie würden Sie die Idee des Grundeinkommens bei den Menschen beliebt machen? In der Schweiz gibt es immer mehr Menschen mit kleinen Einkommen, die nicht lebenssichernd sind. Ich würde auf diese Menschen zugehen und ihnen klarmachen, was sich für sie als Individuen mit dem Grundeinkommen ändern würde. Ein Umdenken hat zum Glück ja bereits stattgefunden. Früher fragte man einander: Was würdest du machen, wenn du eine Million gewinnst? Heute fragt man: Was würdest du machen, wenn du ganz viel Zeit hättest?
Sie haben zwei fast erwachsene Söhne und einen Sohn in der Primarschule. Würde ein Grundeinkommen ihren Start in ein selbständiges Leben er- leichtern? Ja. Heute müssen sie sich stän dig fragen, ob das, was sie lernen, später auch ihr finanzielles Auskommen sichern wird. Es gibt heute Löhne, mit denen man keine Familie durchbringen kann. Mit einem Grundeinkommen könnten meine Söhne sich sofort stärker auf ihre Träume, Ziele und Fähigkeiten konzentrieren. So würde man in Zukunft nicht mehr fragen: Was ist dein Beruf? Sondern: Was ist deine Leidenschaft?
Amira Hafner-Al Jabaji ist Mitbegründerin des «Interreligiösen Think-Tanks» und Moderatorin der Sendung Sternstunde Religion im Schweizer Fernsehen SRF. Für ihr langjähriges Engagement für den Dialog zwischen den Religionen wurde sie 2011 mit dem Anna-Göldi-Preis ausgezeichnet.
Das Interview führte Nadja Schnetzler f ür eine Sondernummer der Zeitschrift «bref» .
Fotos: Laurent Burst.
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«Ein Ladenhüter!»
«Warum sollten wir ein System, das erwie senermassen gut funktioniert, abschaffen?», fragt die ehemalige FDP-Ständerätin Christine Egerszegi (68). Ein bedingungsloses Grundeinkommen lehnt sie vehement ab.
Frau Egerszegi, als Privatperson wie auch als bürgerliche Politikerin haben Sie sich immer wieder für Themen ein gesetzt, die sonst eher Anliegen von Linken sind: schulergänzende Kinderbetreuung, die Altersvorsorge oder auch die Förderung des Musikunterrichts. Was treibt Sie als Politikerin an? Gerechtigkeit. Ungerechtigkeit führt bei mir zu Engagement. Das war bereits bei meinem allerersten politischen Vorstoss so. Ich war erst seit sechs Wochen Leiterin einer Musikschule im Aargau, als eine vollamtliche Flötenlehrerin krank wurde und ins Spital musste. Ich erfuhr, dass sie ihre Vertretung selber suchen und auch bezahlen musste. Das konnte ich kaum glauben. Jeder Hilfspolizist erhält ja Erwerbsersatz ausbezahlt, wenn er krank wird — warum soll das nicht auch für eine Flötenlehrerin gelten? Ich reichte deshalb einen Erwerbsausfall-Antrag bei der Schulpflege ein, der allerdings abgelehnt wurde.
Mit welcher Begründung? Die Antwort war sinngemäss: Weil das bisher so gut funktioniert hat, lassen wir es so, wie es immer war. Dieser Satz hat mich politisiert. Wenn man etwas verbessern muss, kann ich nicht ruhen, bis eine Lösung da ist. Ich engagierte mich dann dafür, dass 153 000 Unterschriften für die Initiative «Jugend + Musik» gesammelt wurde. Sie verlangte, dass die musikalische Bildung in der Schweiz gestärkt wird. Ich nahm stundenlange Autofahrten durch die Schweiz auf mich, um die Idee zu verbreiten. Nach einem Gegenentwurf des Parlaments zogen wir die Initiative zurück, da wir unsere Anliegen umgesetzt sahen. Heute sind wir am Ziel. Sieben Jahre, nachdem wir die Initiative 2008 eingereicht haben: In den Schulen geniesst der Musikunterricht den gleichen Stellenwert wie der Sport.
Befürworter eines Grundeinkommens argumentieren, dass gerade solche En gagements in der Gesellschaft einfacher wären, wenn alle einen fixen monatlichen Betrag erhalten würden. Die Idee des Grundeinkommens ist ein Ladenhüter. Er wurde bereits im 19. Jahrhundert in Belgien von Joseph Charlier propagiert und ist dort erfolglos ausprobiert worden. Auch in der Mongolei und in Brasilien gab es Experimente. Das hat aber alles nicht funktioniert.
Warum lehnen Sie das Grundeinkommen so kategorisch ab? Gegenfrage: Warum sollten wir ein System, das erwie senermassen gut funktioniert, abschaffen? Das Grundeinkommen ist zu wenig flexibel und funktioniert nach dem Giesskannenprinzip. Ich lehne das ab.
Inwiefern ist es zu wenig flexibel? Unser System ist auf zwei obligatorischen Säulen aufgebaut. Einerseits die Altersvorsorge, die wie ein Sparstrumpf funktioniert. Andererseits sorgen Versicherungen bei Invalidität, Unfall und Arbeitslosigkeit dafür, dass mögliche Risiken im Leben gemindert werden. Menschen, die es irgendwie nicht schaffen, erhalten somit Hilfe, um später wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Unsere Sozialsysteme sind flexibel, ganz im Gegensatz zum Grundeinkommen. Dieses schüttet einfach starr jeder Person den gleichen Betrag aus — unabhängig davon, ob sie es braucht oder nicht. Und dieses Geld fehlt dann da, wo es nachher wirklich benötigt wird.
Aber das wäre auch nicht mehr nötig, da ja das Grundeinkommen den Gang aufs Sozialamt erspart. Das ist zu kurz gedacht. Nehmen wir das Beispiel der Langzeitpflege: Ohne zusätzliches Geld zum Grundeinkommen ist eine aufwendi ge Pflege nicht erhältlich. Da braucht es dann zu den bereits ausgegebenen Grund- einkommensmilliarden noch sehr viel mehr Geld, um sich das leisten zu können. Am Ende bleibt aber die simple Frage: Woher soll dieses Geld überhaupt kommen? Ein weiteres Problem wäre zudem der finanzielle Anreiz für Menschen, die noch nicht in der Schweiz leben — aber aufgrund des Grundeinkommens hierher ziehen würden. Falls es in der Schweiz 2500 Franken bedingungslos gibt, ist das ja das Paradies. Da würde ich auch sofort hinziehen, wenn ich in meinem Heimatland als Ärztin 300 Franken verdiene. Was mich an dieser Initiative auch stört: Unsere Verfassung ist kein Ort für Experimente.
Wie meinen Sie das? Würde das Grundeinkommen angenommen werden, be dingt das auch eine Verfassungsänderung. In die Verfassung gehören für mich aber nur solide, durchdachte Dinge, egal, ob sie jet zt von rechts oder links kommen. In eine Verfassung gehört kein Minarettverbot, aber auch kein Grundeinkommen. Das hat etwas mit dem Respekt gegenüber und dem Verständnis für eine Verfassung zu tun.
Sie setzen sich sehr stark ein für die Musikförderung. Aber sind nicht Musiker oder Künstlerinnen gerade jene, die auffallend oft in finanzieller Not landen? Zugegeben, für Menschen, die in der Kultur tätig sind, wäre es tatsächlich interessant, dass sie bedingungslos eine Basis erhielten. Aber das ist ein frommer Wunsch. Ich stehe voll und ganz hinter unseren Sozialwerken. Das sind die Säu len, die uns stützen. Auch die Musiker und Künstler.
Was ist Ihrer Ansicht nach die Motivation, einer Tätigkeit nachzugehen? Das kann die Faszination für etwas sein. Es kann aber auch sein, weil der Mensch ein fach aus finanziellen Gründen arbeiten muss. Was aber klar ist: Alle brauchen eine Struktur in ihrem Alltag. Ich hoffe auch, dass jeder Mensch für irgendetwas ein Feuer entwickeln kann. Sei es im Beruf, in der Freizeit oder in einem Ehrenamt. Diese Haltung versuchte ich auch immer meinen Kindern weiterzugeben.
Versuchen wir einmal, dem Grundein kommen etwas Positives abzugewinnen. Menschen, die bedürftig sind, müssten in Zukunft vor dem Staat nichts mehr von sich preisgeben, um Unterstützung zu erhalten. Ist das erstrebenswert? Denn ein Mensch in einer solchen Situation möchte ja das Geld von anderen Menschen haben. Da muss er schon aufzeigen, dass er das Geld wirklich benötigt. Das Ziel muss auch immer sein, einen Sozialhilfebezüger wieder in die Selbständigkeit zu bringen. Das war auch mein Grundsatz, als ich in einer Gemeinde für die Sozialhilfevergabe zuständig war.
Wie lebten Sie diesen Grundsatz konkret? Wir bezahlten beispielsweise einer Frau, die von den Drogen loskommen wollte, eine kosmetische Behandlung, damit sie ihre hartnäckige Akne bekämpfen konnte. Das verhalf ihr zu mehr Selbstver trauen bei Bewerbungsgesprächen. Oder einer Geschäftsfrau, die kurz vor der Geburt ihres Kindes von dessen Vater mit dem gesamten Vermögen verlassen wor- den war, zahlten wir einen Wohnsitz im Aargau und eine vorübergehende Zweitwohnung in Zürich, damit sie Arbeit und Kinderbetreuung in Einklang bringen konnte. Nach sechs Monaten stand sie wieder auf eigenen Beinen. Sie zahlte übrigens dem Sozialamt alles zurück.
Gibt es eine soziale Idee oder Utopie, der Sie etwas abgewinnen können? Dass jede Frau und jeder Mann einen gemeinnützigen Beitrag für die Gemein schaft leisten soll. Das kann politisch, kul turell oder sozial sein. Ich finde es sehr wichtig, dass wir alle nicht nur konsumie ren, sondern auch etwas geben. Auf dem Formular, das ich bei meinem Eintritt in den Nationalrat ausfüllen musste, gab es eine Linie mit «Militärischer Grad». Da habe ich hingeschrieben: «Feldweibel zu Hause». Gleich darunter habe ich eine neue Linie gezogen, die ich mit «Gemeinnütziges Engagement» versah. Seither ist diese Frage Teil des Fragebogens.
Christine Egerszegi sass für die Freisinnig-Demokratische Partei der Schweiz ingesamt zwölf Jahre im Nationalrat und acht Jahre im Ständerat. Als Nationalratspräsidentin war sie in den Jahren 2006 und 2007 die höchste Schweizerin. 2015 trat sie aus dem Ständerat zurück.
Das Interview führte Nadja Schnetzler f ür eine Sondernummer der Zeitschrift «bref» .
Fotos: Laurent Burst.
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«Frauen punkten mit extremer Innovation»
Ohne staatliche Gelder müsste Christine Bühler (57), Bäuerin und Präsidentin des Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverbands, den Milchwirtschaftsbetrieb aufgeben. Einem Grundeinkommen steht sie dennoch skeptisch gegenüber.
Frau Bühler, angenommen, die Bauern erhalten in Zukunft vom Staat keine Direktzahlungen mehr, dafür ein Grundeinkommen von 2500 Franken je Fami lienmitglied. Was hätte das für Ihren Betrieb für Auswirkungen? Die Pouletmast könnten wir wohl weiterführen, die Milchwirtschaft müssten wir sofort einstellen. Und wie stark wir dann das Land noch bewirtschaften könnten, kann ich auch nicht sagen, da die Milchwirt schaft an die Landbewirtschaftung geknüpft ist. Selbst wenn wir die Poulets noch weiterproduzieren würden, bliebe die Frage, ob dann noch jemand in unserer Pouletmetzgerei arbeiten wollte. Nur Spe zialkulturen mit Gemüse, Aprikosen oder Kräutern sind selbsttragend. Einen Hof mit Milch, Fleisch und Getreide selbst finanziert zu betreiben ist heute aber praktisch unmöglich.
Die Umstellung auf ein Grundeinkom-men würde ja nicht von heute auf morgen stattfinden. Nun ja, das stimmt. Die Schweiz könnte es auch einfach ausprobieren, schliesslich sind wir ein kleines Land. Wenn es nicht funktioniert, lässt sich ja wieder Gegensteuer geben. Und ob die diskutierten 2500 Franken der richtige Betrag sind, ist ja auch nicht unbedingt klar. Das müsste man alles testen. Ich fin de die Idee, ein neues System zu suchen, um die Sozialleistungen auch in Zukunft erbringen zu können, sehr wichtig. Da sollte man alles prüfen, auch das Grundeinkommen. Dennoch frage ich mich, ob sich nicht zu viele aus der Verantwortung ziehen, wenn es ein Grundeinkommen gäbe. Was ist dann mit der Pflegefachfrau, die vielleicht nur noch fünfzig Prozent arbeiten will? Fällt am Ende das gesamte Gesundheitssystem auseinander?
Vielleicht würde die Pflegefachfrau mit der Hälfte ihres Pensums motivierter arbeiten? Und es gäbe Platz für eine weitere Person, die fünfzig Prozent arbeiten will? Ja, das kann sein. Und viel leicht würde die Gesellschaft solche Beru fe dann auch durch eine andere Brille sehen. Vielleicht würden diese Jobs auch einen besseren Ruf haben. Wer weiss. Heute wollen Jugendliche ja kaum mehr Berufe erlernen, in denen körperlich ge arbeitet wird. Kopfarbeit hat einen besseren Status als die handwerkliche Arbeit. Das finde ich eine bedenkliche Entwicklung.
Das heisst, ein Grundeinkommen könn te den Status gewisser Arbeiten verändern? Vielleicht. Ich würde das begrüssen. Denn ohne den Gerüstbauer lässt sich kein Haus renovieren. Und wenn immer weniger Personen solche Tätigkeiten ausführen wollen, werden sie vielleicht sogar besser bezahlt. Ich glaube, dass das Grundeinkommen eher in akademischen Kreisen funktionieren würde, nicht aber bei handwerklichen Berufen. Es geht doch niemand bei 35 Grad nach draussen und teert eine Strasse, wenn er nicht muss.
Wem würde ein Grundeinkommen am meisten nützen? Wohl Eltern mit Kin dern. Alleinerziehende Eltern vollbringen einen wichtigen Dienst an der Gesellschaft, der nicht honoriert wird. Ein bedingungsloser Betrag könnte diese Arbeit sichtbarer machen und sie dafür angemes sen entlöhnen. Dass ein Grundeinkommen alle Sozialwerke überflüssig macht, glaube ich allerdings nicht. Es wird immer Leute geben, für die man trotz Grundeinkommen sorgen müsste. Und um diese müssen wir uns als Gesellschaft kümmern, gerade weil es die schwächsten sind. Geschieht dies nicht, zerfällt ein Land, eine Gemeinschaft.
Was beschäftigt die Bäuerinnen in der Schweiz? Die schwierige Einkommenssi tuation vieler Betriebe ist ein Dauerbrenner. Dann die mangelnde Wertschätzung der Konsumenten gegenüber Nahrungs mitteln. Wir möchten als Verband aufzeigen, was es alles braucht, bis ein Liter Milch da ist oder ein Brot aus dem Ofen kommt. Dahinter steckt nämlich sehr viel Arbeit. Aber auch die Beziehung von uns Bauern und der Gesellschaft ist etwas, was uns sehr beschäftigt.
Wie meinen Sie das? Ein Bereich der Gesellschaft zu sein, der Direktzahlungen, also praktisch Almosen von den anderen erhält, das ist für viele nicht einfach. Des halb kann man fast sagen, dass die Bauern und Bäuerinnen ein Grundeinkommen erhalten. Es ist aber nicht bedingungslos, sondern geknüpft an eine bestimmte Leis tung. Dem Selbstbewusstsein tun diese Direktzahlungen aber nicht besonders gut. Gerade die Männer auf den Betrieben leiden oft unter dieser Situation. Und das kriegen natürlich auch die Frauen mit.
Bauernbetriebe sind in der Regel Fami lienbetriebe. Ein Grundeinkommen könnte Bäuerinnen auch Unabhängigkeit und Sicherheit verschaffen. Das Thema der finanziellen Absicherung beschäftigt heute viele Bäuerinnen. Ob ein Grundeinkommen da eine Hilfe wäre, kann ich nicht sagen. Es ist aber bereits heute so, dass Bäuerinnen sich zum Beispiel vom Betrieb einen Lohn auszahlen lassen und dann Arbeitslosengeld beziehen, wenn sie diese Tätigkeit nicht mehr ausüben können. Die Arbeiten auf dem Hof können sie dann im Anstellungsver hältnis in Prozenten angeben und mit den Sozialversicherungen abrechnen.
Warum ist das so wichtig? Tut die Frau das nicht, ist sie einfach als «nicht er werbstätig» erfasst und nicht abgesichert. Das ist heute einfach nicht mehr akzeptabel. Eine weitere Möglichkeit ist, die Frau zur Mitbewirtschafterin zu machen. Dazu muss sie aber über eine landwirtschaftliche Ausbildung mit Nachweis verfügen. Von den Bäuerinnen beanspruchen leider viel zu wenige diesen Status. Viele in meinem Alter sind frustriert, wenn sie auf ihr berufliches Leben zurückblicken. Sie mer ken, dass sich ihre Leistung nirgends manifestiert hat.
Gibt es denn auch Frauen mit eigenem Hof? Ja, die gibt es immer mehr. Frauen übernehmen häufig Nischenbetriebe an schwierigen und nicht lukrativen Lagen. Dort punkten sie mit extremer Innovation. Das ist eindrücklich zu sehen.
Beispielsweise? Eine Bäuerin hat ange fangen, Apfelringe von ihren Hochstamm bäumen zu dörren — heute beschäftigt sie mehrere Angestellte und konnte auch den «Apfelringliturm» im Schweizer Pavillon an der Expo in Mailand beliefern. Aber gerade die Männer haben da im ersten Moment nicht immer Verständnis, wenn ihre Frauen die Selbständigkeit suchen. Sie wollen sich lieber auf die althergebrachten Produkte und Methoden stützen.
Was brauchen die Bäuerinnen in Zukunft, damit es ihnen gutgeht? Neben der festgeschriebenen und effektiven Gleichstellung und einer besseren finanziellen Lage brauchen Bäuerinnen vor allem Raum. Man muss sie machen lassen, sie ihren eigenen Betriebszweig entwickeln lassen.
Was ist Ihre Selbständigkeit innerhalb vom Familienbetrieb? Wir haben neben unserer klassischen Milchwirtschaft eine Pouletmast aufgebaut, die zusätzlichen Ertrag zu unserem angestammten Geschäft generiert. Unterdessen ist das ein eigenständiger Bereich, für den heute nur ich zuständig bin. Ich wollte das so.
Christine Bühler ist diplomierte Bäuerin, Präsidentin des Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverbands und Vizepräsidentin des Schweizerischen Bauernverbands.
Das Interview führte Nadja Schnetzler f ür eine Sondernummer der Zeitschrift «bref» .
Fotos: Laurent Burst.
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«Kreativität statt Verzweiflung»
Die Schweizerin Harryet Lang (40) arbeitet in Berlin als Modedesignerin. Davon leben kann sie allerdings nicht. Sie bezieht Sozialhilfe für Selbständige vom deutschen Staat. Ein Grundeinkommen würde viel Druck aus ihrem Leben nehmen, sagt sie.
Frau Lang, Sie leben in Berlin und nehmen hier regelmässig an der Verlosung eines Grundeinkommens für ein Jahr teil. Angenommen, Sie gewinnen die tausend Euro im Monat, was würde sich ändern? Zunächst wäre es für mich eine grosse Entspannung. Ich beziehe aktuell «Hartz 4 Aufstocker», das ist die Sozialhilfe für Selbständige. Konkret muss ich dafür zweimal im Jahr alles offenlegen, was bei mir reinkommt. Also was mein Leben kostet und wofür ich Geld ausgebe. Da kommt man sich ganz nackt vor, es ist ein demütigender Prozess. Doch ohne dieses Geld könnte ich meiner Arbeit als Modedesignerin gar nicht nachgehen. Ein Grundeinkommen würde viel von die sem finanziellen Beschaffungsstress wegnehmen.
Wer stellt bei der Verlosung das Geld zur Verfügung? Der Verein «Mein Grundeinkommen» sammelt per Crowdfunding das Geld. Es sind viele Privatpersonen, die spenden, was ich grossartig finde. Immer wenn 12 000 Euro zusammen sind, werden sie an eine Person vergeben. Damit macht der Verein auf die Idee des Grundeinkommens in Deutschland aufmerksam. Dabei muss jeder Teilnehmer angeben, was man mit dem Grundeinkommen anfangen würde. Ich las bei anderen Personen, dass sie wieder einmal Ferien mit der Familie machen möchten oder dass sie Zeit brauchen, um ein Buch zu schreiben.
Angenommen, Sie hätten finanziell eine stabilere Basis, was würden Sie als nächstes tun? Ich würde ein Grundein kommen nutzen, um mein Geschäft voranzutreiben, das seit 2010 im Aufbau ist. Im Moment kann ich es mir beispielsweise nur selten leisten, die Produktion meiner Kollektion auszulagern. Hätte ich bedingungslos 1000 Euro im Monat zur Verfügung, ich würde dies tun. Zusätzlich würde ich eine Person anstellen, die meine Produkte bei Boutiquen vermarktet. Ich könnte mich dann wieder stärker auf das Entwerfen von neuen Kollektionen konzentrieren.
Das Grundeinkommen würde Ihnen also erlauben zu investieren. Genau. Jetzt lebe ich von einem Tag zum nächsten, muss alles selber organisieren und praktisch alles selber machen. Das raubt mir unglaublich viel Zeit. Das ist aber teilweise auch meiner Haltung geschuldet, dass, wenn ich etwas nähen lasse, ich die Arbeit hier in Berlin vergebe — mit entsprechen der Kostenfolge. Und mittelfristig möchte ich dann neben der fairen Produktion auch noch Biostoffe nutzen. Dafür fehlt mir aber im Moment einfach das Geld.
Was nennen Sie eigentlich Ihr Vermögen? Ein Zimmer voll von Schnittmus tern, die ich über die Jahre entwickelt habe. Es wäre aber schön, wenn ich ein kleines, richtiges Finanzpolster anlegen könnte. Das würde mir erlauben, relaxter an gewisse Themen heranzugehen.
In Berlin gibt es viele Menschen, die mit wenig Geld auskommen. Studenten, aber auch Personen mit einem Projekt, das Zeit braucht, aber kein Geld einbringt. Wie organisiert man sich hier, damit es klappt? Wir tauschen viel mehr Dinge und Dienstleistungen — helfen uns gegenseitig aus. Fotografiert wer meine Modeschau, dann biete ich ihm als Gegen leistung ein oder zwei Stücke aus meiner Kollektion an. Wenn ich mehr Geld hätte, würde ich die Leute liebend gerne bezahlen, das ist ja klar. Aber es geht vielen wie mir, und so sind wir gewohnt, in Naturalien oder Gegenleistungen zu denken und zu zahlen.
Erleben Sie diesbezüglich Berlin anders als die Schweiz? In der Schweiz ist diese Haltung weniger verbreitet. In Berlin kommen die Menschen oftmals gar nicht anders über die Runden. Ich glaube auch, dass Leute mit wenig Geld in der Schweiz stärker an den Rand der Gesell schaft gedrückt werden als in Berlin. Hier kann ich auch mit sehr wenig Geld an fast allem teilhaben. So gibt es zum Beispiel viele kostenlose oder extrem günstige Kulturangebote, freie Eintritte in Museen, Festivals und vieles mehr, was eine Gross stadt wie Berlin zu bieten hat.
Was hat diese Berliner Lebensart mit Ihnen gemacht? Wenig Geld macht kreativ, und man fällt bewusstere Entscheide. So habe ich zum Beispiel die Schneiderschere, die ich 1996 als Ab schiedsgeschenk bei einem Praktikum er halten habe, heute immer noch im Einsatz. Es braucht keine neue, ich behandle sie einfach mit Sorgfalt und schleife sie immer wieder nach. Ich will an dieser Stelle aber etwas klarstellen: Zwischen wenig Geld und zu wenig Geld gibt es einen grossen Unterschied. Ein bescheidener Lebensstil kann die Kreativität beflügeln. Ein Leben unter dem Existenzminimum führt aber zur Verzweiflung.
Inwiefern würde ein Grundeinkommen eine Gesellschaft verändern? Den Men schen würde es besser gehen, und das meine ich insbesondere psychisch. Und die Menschen wären weniger gestresst. Dadurch würde das, was man tut, auch besser. Ich merke das auch bei der Mode: Wenn ich entspannt an die Sache heran gehen kann, ist das Resultat einfach besser. Weiter würden die Leute vermehrt das tun, was sie wirklich gut können — und nicht das, was am meisten Geld bringt. Gerade in der Schweiz sitzen viele in Jobs, die sie zwar nicht mögen, die aber gut bezahlt sind. Das verstehe ich nicht so richtig.
Würden Sie in die Schweiz zurückkehren, wenn dort ein Grundeinkommen eingeführt würde? Eher nicht. Ich würde den Schweizern zwar ein Grundeinkom men gönnen, auch wenn andere Länder dieses wohl nötiger hätten. Warum ich aber nicht zurückkehren würde: Ich bin in Berlin zuhause. Dieses Jahr hatte ich nach sechzehn Jahren eine kurze Zeit wirklich Heimweh nach der Schweiz und fühlte mich für ein paar Monate hier in Berlin nicht mehr so wohl. Dann bin ich in einen neuen Kiez gezogen und hab mich wieder in diese Stadt verliebt. Was ich aber nicht weiss, mich jedoch noch interessieren würde: Sieht das Grundeinkommen in der Schweiz vor, dass es wirklich alle erhalten? Also auch jene, ein grosses Vermögen haben oder extrem viel verdienen?
Ja, das ist die Idee. Hmm, das ist irgend wie unfair. Zugleich: Es kann ja auch jede Person, der es finanziell sehr gut geht, aus irgendwelchen Gründen in Not geraten. Und dann bekommt man heute Sozialhilfe. Das Grundeinkommen dreht das um, und man bekommt in jedem Fall, egal ob es einem gutgeht oder nicht, einen definierten Betrag. Wer es nicht braucht, kann es zum Beispiel auf die Seite legen für schlechtere Zeiten, oder es anlegen oder den Betrag für einen guten Zweck spenden. Doch, das macht schon Sinn.
Sie leben seit vielen Jahren in finanziell prekären Verhältnissen. Haben Sie eigentlich ein Motto, das Sie durchs Leben trägt? Mein Motto ist: Klar kann ich das — ich hab’s nur noch nie gemacht. Ich habe bereits einige Male im Leben wirklich krasse Entscheide getroffen. Mit 13 bin ich von zuhause ausgezogen und mit 23 nach Berlin ausgewandert, ohne zu wissen, was mich hier erwartet. Meine Pläne haben sich immer wieder geändert. Zuerst wollte ich Journalistin werden. Dann merkte ich, dass mich Modedesign so sehr interessiert, dass ich meine ganze Arbeitkraft darauf fokussieren möchte. Solange ich in prekären Verhältnissen lebe, werde ich deshalb auch an der Verlosung zum Grundeinkommen teilnehmen. Drücken Sie mir die Daumen.
Harryet Lang zog nach ihrem Studium an der Modedesignschule in Zürich nach Berlin. Dort entwirft sie seit sechzehn Jahren Männerkollektionen und entwickelt Berufskleidung.
Das Interview führte Nadja Schnetzler f ür eine Sondernummer der Zeitschrift «bref» .
Fotos: Laurent Burst.
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«Ein wichtiger Baustein»
Die Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp (52) setzt sich für das bedingungslose Grundeinkommen ein. Dabei betont sie, dass das Grundeinkommen nicht die Zukunftslösung für alle Probleme sein soll, mit denen wir kon frontiert sind — sondern vielmehr ein wichtiger Baustein zur Bewältigung der vielen «Baustellen» in unserer Gesellschaft. Frau Schrupp, Sie sind laut Ihrem Blog eine Verfechterin der Idee des Grundeinkommens, aber trotzdem sehen Sie auch ein grosses Problem darin. Können Sie diesen Widerspruch erklären? Mit der Idee des Grundeinkommens selbst habe ich gar kein Problem. Ich habe ja schon 2004 zusammen mit anderen einen Text geschrieben, der für ein Grundeinkommen plädiert. Ab 2005 wurde dann die Idee des Grundeinkommens in Deutschland immer stärker diskutiert. Wichtig war dafür auch Götz Werner, der Besitzer der DM-Drogeriemärkte, der sich bis heute stark für ein Grundeinkommen einsetzt. Dadurch kam die Idee in den Mainstream und aus der «linken Ecke» heraus.
Das ist ja eigentlich positiv, oder? Auf jeden Fall, ja. Leider entwickelte sich der Diskurs um das Grundeinkommen dann immer mehr in die Richtung, dass das Grundeinkommen die Zukunftslösung für alle Probleme sein soll, mit denen wir kon frontiert sind. Doch das glaube ich nicht. Ich denke, das Grundeinkommen ist ein wichtiger Baustein, ein Element dafür, wie wir die vielen «Baustellen» in unserer Gesellschaft angehen könnten. Vielleicht kann es so etwas wie der Leim werden, der alles zusammenhält. Das Grundeinkommen fordert uns heraus, die Themen Arbeit, Erwerb und Zusammenleben einmal genauer zu beleuchten. Es ist wichtig, aber es gibt andere, ebenso wichtige Dinge für die Zukunft.
Was braucht es um das Grundeinkommen herum? Wir müssen das Grundeinkommen in einen grösseren Zusammenhang stellen: Speziell aus einer feministischen Perspektive ist das Thema der sogenannten Care-Arbeit, der Arbeit, bei der sich Menschen um Menschen kümmern, ein essenzieller Bestandteil dieser Gesamtschau.
Viele Leute, die zum ersten Mal vom Grundeinkommen hören, sagen: Das Grundeinkommen krempelt alles um. Stimmt das? Ich sehe das nicht so. Das Konzept einer bedingungslosen Versorgung von Menschen ist schon lange da. Wir haben einen weitgehenden Konsens in der Gesellschaft darüber, dass für die Menschen, die nicht für sich selbst sorgen können, gesorgt werden muss. Aber die damit verbundene Arbeit wurde und wird grösstenteils von Frauen auf informeller und unbezahlter Basis geleistet, weshalb sie sogar manchen Grundeinkommensbe fürwortern nicht einfällt, wenn sie nach Beispielen gefragt werden. Das Grundeinkommen krempelt unser Gesellschaftssys tem also nicht völlig um, aber es macht Aspekte davon sichtbar, die bisher weitgehend unsichtbar sind. Dass Menschen nicht allein für sich selbst sorgen können, sondern auf Hilfe und Unterstützung der Gesellschaft angewiesen sind, gehört schlicht zur Conditio humana . In einem Grundeinkommen würde das lediglich monetarisiert: Alle bekommen Geld, weil alle Geld zum Leben brauchen. Das ist eine sehr positive Sache. Nur ist sie leider nicht zu Ende gedacht.
Inwiefern nicht zu Ende gedacht? Die Sorge vieler Feministinnen ist, dass ein Grundeinkommen auch ein Rückschritt sein könnte, weil die Gefahr besteht, dass es als Quasi-Lohn für häusliche Care-Arbeit angesehen wird. Frauen haben sich Gleichberechtigung, Unabhängigkeit und Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts hart erkämpft. Trotzdem — das belegen auch Umfragen — legen bis heute Männer im Beruf einen viel grösseren Wert auf Sta tus und Einkommen, während es Frauen vor allem wichtig ist, dass sie etwas tun, was für sie und andere sinnvoll ist.
Und wozu führt das? Männer entscheiden sich wesentlich seltener als Frauen dafür, ihre Erwerbsarbeit aufzugeben oder zu reduzieren, wenn es zum Beispiel notwendig wird, für Kinder, für die alten Eltern oder Schwiegereltern zu sorgen. Das ist natürlich in beiden Fällen auch sozialisationsbedingt und damit veränderbar, aber derzeit eine Realität, die wir einkalkulieren müssen. Ein Grundeinkommen, das eingeführt wird, ohne über Geschlechterbilder und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vertieft nachzudenken, würde deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass Frauen weiterhin mehrheitlich das tun, was zu tun ist, und sich mit dem Grundeinkommen zufriedengeben, während Männer weiterhin mehrheitlich Status und Verdienst verfolgen. Ein isoliertes Grundeinkommen, ohne dass gleichzeitig auch die Care-Arbeit neu organisiert wird, könnte zu einer Zweiklassengesellschaft führen, weil es das Dilemma nicht aufhebt, dass Menschen sich entscheiden müssen zwischen Geld, Karriere, öffentlichem Einfluss auf der einen und Sorgearbeit auf der anderen Seite.
Was also müssen wir tun? Wir müssen Care-Arbeit anders ermöglichen, als diejenigen Menschen, die sie erledigen, mit dem Existenzminimum abzuspeisen. Und genau das ist der Fall, wenn das Grundeinkommen als Ermöglichung von häuslicher Care-Arbeit betrachtet wird. Ich sehe die Gefahr, dass die Diskussion über Care-Arbeit, die derzeit an Fahrt gewinnt, mit der Einführung eines Grundeinkommens an Dringlichkeit verlieren könnte.
Wer muss sich an dieser Diskussion be teiligen? Diese Diskussion müssten alle, aber vor allem auch die Männer führen. Bei den Frauen hat sich schon einiges ver ändert in den letzten vierzig Jahren. Bei den Männern noch nicht so viel. Sie machen immer noch nur einen Bruchteil der Care-Arbeit in Familien und wählen nur selten Pflegeberufe. Ich halte das für einen Konflikt, der offensiv und explizit zum Thema gemacht werden muss.
Könnte es nicht sein, dass das Grundeinkommen der Katalysator wäre, um genau solche Denkprozesse in Gang zu setzen? Auf jeden Fall ist das Grundeinkommen ein Katalysator für vieles. Aber es wird damit nicht automatisch «alles gut». Der Marxismus hat auch gesagt: Mit unserem System werden sich die Geschlechterdifferenzen automatisch auflösen, denn unser System sorgt für Gleich heit. Doch das war falsch. Soziale Rollenmuster sind tief verankert und gehen nicht «automatisch» weg, und dasselbe gilt für den Wert von Berufen und Tätigkeiten. Ein Grundeinkommen kann bestehende Stereotype unter Umständen sogar zementieren helfen.
Solche Diskussionen und Anpassungs- prozesse brauchen viel Zeit, Jahrzehnte, wenn nicht noch länger. Braucht es eine Reihenfolge? Erst dieser Diskurs, dann die Einführung eines Grundeinkommens? Wir können durchaus beides gleichzeitig tun. Ich mache das immer je nach Kontext: Wenn ich unter Grundeinkommensbefürwortern bin, die darin die Lösung aller Probleme sehen, dann bringe ich die gerade genannten feministischen Argumente ein, und wenn ich unter Femi nistinnen bin, die alles mit einer Quote lösen wollen, dann bringe ich die Idee des Grundeinkommens ins Spiel. Wir müssen auf beiden Ebenen diskutieren, das ist ele mentar. Sehr wichtig wäre, dass man die feministischen Ökonominnen mit ins Boot holt, wenn über das Grundeinkommen diskutiert und auch wenn es umgesetzt wird. Sie haben über ganz viele Aspekte geforscht und geschrieben, die für das Grundeinkommen relevant wären. Wenn man nicht hört, was sie zu sagen haben, wenn man sie nicht als Partnerinnen in die Diskussion einbezieht, fehlt da ein wichtiges Element, das zum Gelingen bei tragen kann.
Woran liegt das wohl, dass diese Stimmen nur so wenig gehört werden? Es gibt stapelweise Bücher von feministischen Ökonominnen, die sich mit diesem ganzen Themenkomplex aus den unter schiedlichsten Perspektiven befassen. Lei der werden ihre Positionen in den männlich dominierten Bewegungen wenig bis gar nicht rezipiert. Ich weiss, ehrlich ge- sagt, auch nicht, woran es liegt, dass sich so wenige Männer für feministische Ökonomiekritik interessieren. Vielleicht ist ihnen die Relevanz jener eher «unsichtbaren» Seite der Ökonomie, die sich nicht im Bruttosozialprodukt oder in der Steuer- politik niederschlägt, sondern im sogenannten Privaten stattfindet, nicht bewusst. Wie gesagt: Vor allem Männer müssten sich mit diesen Gedanken zu befassen beginnen.
Was müsste man denn nun konkret tun, um das Problem an der Wurzel zu packen? Und wer müsste es tun? Das gesellschaftliche Umdenken in der Neuverteilung von Arbeit und Einkommen wird meiner Ansicht nach eher mit dem Nachdenken über Care-Arbeit kommen als über das Grundeinkommen. Das Ziel muss sein, eine gesellschaftliche Diskussion darüber anzustossen, wie wir in Zukunft mit der Care-Arbeit umgehen wollen. Nur dann bleibt das Grundeinkommen keine abstrakte Idee. Das Grundeinkommen darf allerdings auf keinen Fall als «die Lösung» angepriesen werden. Es ist immer nur ein Teil der Lösung, ein Puzzleteil, das dann Sinn ergibt, wenn die anderen Puzz- leteile drumherum auch da sind.
Warum ist das Grundeinkommen Teil der Lösung? Weil es monetär sichtbar macht, dass alle Menschen bedürftig sind, dass wir sozusagen alle «Sozialhilfeempfänger» sind, dass niemand sich selbst versorgen kann, sondern dass wir nur in Gemeinschaft und mit gegenseitiger Fürsorge im Alltag gut leben. Damit hilft es uns, uns von dem Idealbild des autonomen Selbstversorgers zu verabschieden, das derzeit irgendwie über allen sozialpolitischen Projekten schwebt, aber eben nicht funktioniert.
Antje Schrupp studierte Politikwissenschaft, Philosophie und evangelische Theologie in Frankfurt am Main. Die Politikwissenschaftlerin und Journalistin beschäftigt sich mit der politischen Ideengeschichte von Frauen und ist Autorin einiger Bücher. Das Interview führte Nadja Schnetzler f ür eine Sondernummer der Zeitschrift «bref» .
Fotos: Laurent Burst.
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«Wieder einmal Pioniere sein»
Debbie Zedi (38) ist Marketingleiterin der Zürcher Hochschule der Künste. I m Interview zum bedingungslosen Grundeinkommen sagt sie, weshalb ausgerechnet die Schweiz mit einem Grundeinkommen starten sollte.
Frau Zedi, Sie verantworten das Marketing der Zürcher Hochschule der Künste. Unabhängig, was Sie vom Grundeinkommen halten: Wie würden Sie dieses bei den Menschen in der Schweiz beliebt machen? Gute Frage. Ich würde wohl Zukunftsszenarien visualisieren: Was wäre mit dem Grundeinkommen an ders als heute? Was würde gleich bleiben? Dargestellt in Bildergeschichten oder kur zen Videoclips, die man auf Social Media teilen kann. Zum Beispiel ein Familiengespräch über die Ferien, zu denen die Kinder von ihrem Grundeinkommen auch ihren Beitrag leisten. Oder ein Mitarbei tergespräch mit dem Chef über unbezahl ten Urlaub. Diese Szenen aus dem Alltag sollten mögliche neue Denkmuster und Verhaltensweisen zeigen, die mit dem Grundeinkommen entstehen.
Und wenn Sie die Gegenkampagne leiten würden? Dann würde ich ganz stark mit Zahlen arbeiten. Funktioniert das wirklich? Ich würde Horrorszenarien zeigen, Angst davor machen, was mit dem Grundeinkommen alles schieflaufen könnte.
Zu Ihnen: Mögen Sie eigentlich die Idee eines Grundeinkommens? Sagen wir es so: Ich freue mich, dass wir in der Schweiz überhaupt eine solche Vision entwickeln und diskutieren können. Es ist eine visionäre, fast utopisch anmutende und doch fassbare Idee. Schon allein dass man wagt, so etwas zu denken, finde ich toll. Im besonderen gefällt mir die Kom- plexitätsreduktion, die Vereinfachung.
Was meinen Sie mit Komplexitätsreduktion? Dass wir mit einem Grundein kommen weniger Energie für Administra tion und Bürokratie brauchen würden. Was ich auch spannend finde: Unsere Ge sellschaft wäre wohl weniger von Ängsten und Zwängen geprägt. Wenn Existenzängste auf ein Minimum reduziert werden, kann sich der Einzelne freier entfalten. Vielleicht sehen sich Menschen dann auch weniger dazu gezwungen, das zu tun, was gesellschaftskonform ist. Ich sehe das auch bei unseren Studierenden: Es braucht nach wie vor oft Mut, sich an der Zürcher Hochschule der Künste für einen Beruf im Bereich Kunst oder Kultur zu entscheiden. Ein solcher Entscheid löst in vielen Familien Ängste und Gegenrefle xe aus. Und es stimmt ja auch: Mit einem solchen Beruf müssen viele um ihre Existenz kämpfen und oft nebenher einen Brotjob machen, um das Nötigste zum Leben zu verdienen.
Was würde sich für die Studierenden an der Zürcher Hochschule der Künste mit einem Grundeinkommen ändern? Studierende, die nicht auf die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern zählen können, hätten es mit einem Grundeinkommen weniger schwer. Das Grundeinkommen würde allen Studierenden erlauben, sich voll und ganz aufs Studium zu konzentrieren. Niemand wäre gezwungen, einem Nebenjob nachzugehen, um sich während des Studiums über Wasser zu halten. So kämen die Studierenden vielleicht schneller ans Ziel. Es könnte aber auch genau das Gegenteil der Fall sein: Weil der Druck weniger gross ist, gäbe es vielleicht mehr «ewige Studenten», die im Studium ein bisschen vor sich hin dümpeln.
Worin unterscheidet sich ein Kunststudent von einem anderen Studenten? Die Studierenden hier sind wirklich in trinsisch motiviert. Wer einfach möglichst schnell möglichst viel Geld verdienen will, wählt kaum ein Studium in den Künsten. Jeder und jede hier brennt für seine oder ihre Kunst, sei es nun Design, Musik, Film oder Tanz. Es gibt aber sicher auch in den meisten anderen Berufsgattungen diejeni gen Menschen, die für ihre Sache brennen: für den Bau, die Forschung, für Dienstleistungen.
Wie wäre Ihre Biografie mit einem bedingungslosen Grundeinkommen ver- laufen? Dann wäre ich nach der Matura nicht arbeiten gegangen, sondern hätte mit einem Studium angefangen. So aber habe ich gleich angefangen zu arbeiten, weil meine Eltern mich finanziell nicht unterstützten. Allerdings: Was ich heute weiss, lernte ich «on the job» und in berufsbegleitenden Ausbildungen.
Was ja auch toll ist. Ja, das sehe ich auch so. Ich habe von der Praxis gelernt und ging nicht von der Theorie aus. Dass ich arbeiten musste, hat mich natürlich auch angetrieben. Hätte es ein Grundeinkommen gegeben, als ich mein Sabbatical gemacht habe, hätte ich wahrscheinlich nicht noch Teilzeit gearbeitet, um mir das Nötigste zum Leben zu verdienen. Ich hätte ein «richtiges» Fulltime-Sabbatical eingelegt, also ein Lesejahr gemacht oder wäre eigenen Projekten nachgegangen — ganz unabhängig davon, ob sie Geld einbringen oder nicht.
Heute zielt Bildung meist darauf ab, die Abgänger bestmöglich auf die Berufswelt vorzubereiten. Würde ein Grundeinkommen andere Schwer- punkte in der Bildung setzen? Möglicherweise. Bildungsinstitutionen bewe gen sich in einem Spannungsfeld zwischen Ausrichtung am Arbeitsmarkt und Ausrichtung an Gesellschaft und Wissen schaft. Da können unterschiedliche Wert- vorstellungen und Prioritätensetzungen aufeinanderprallen. Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen wäre der Druck vielleicht weniger hoch, die Bil dung so stark am Arbeitsmarkt auszurich ten.
Mit welcher Konsequenz? Dass junge Menschen, die sich nach der obligatorischen Schulzeit für eine Ausbildung oder ein Studium entscheiden müssen, sich bei ihrem Entscheid mehr durch ihre Interes sen und ihre Begabung leiten lassen als von wirtschaftlichen Überlegungen und damit verbundenen Ängsten wie: Werde ich in diesem Beruf meinen Lebensunterhalt sicherstellen können?
Was geschieht, wenn ein Grundeinkommen eingeführt würde? Für sich selber und sein Umfeld kann man vermut lich einschätzen, was man mit einem Grundeinkommen machen würde. Für Berufe und Lebensumfelder, die einem fremd sind, ist das schwieriger zu beurtei len. Wie viel Freude schöpfen zum Bei spiel ein Putzmann oder eine Kassiererin aus ihrer Tätigkeit? Diese Frage stellt sich ja insbesondere bei schlechtbezahlten Berufen. Würden diese Leute ihre Tätigkeit weiter ausüben, wenn es das Grundeinkommen gäbe?
Und? Wir wissen nicht, was genau passie ren würde. Aber es gäbe eine Dynamik in das Ganze. Wenig beliebte Jobs müssten künftig besser bezahlt werden, ansonsten will sie keiner mehr machen. Es ist genau diese Dynamik, die mich am Grundeinkommen fasziniert: das Hinterfragen des jetzigen Systems und das Aufbrechen von Ungerechtigkeiten, die in der gegenwärti- gen Ordnung wurzeln.
Kritiker sagen, dass beim Grundeinkommen zu viele Fragen ungeklärt sind. Ja, aber man muss auch gar nicht alle Fragen beantworten. Wir sollten einfach mal damit anfangen und herausfinden, was dann geschieht. Klar, das braucht Mut. Aber im «Biotop Schweiz» könnten wir es uns erlauben, so etwas auszuprobieren. Es kann nicht viel schiefgehen. Und falls doch, passen wir das System an. So wird es laufend besser.
Warum soll ausgerechnet die Schweiz mit einem Grundeinkommen starten? Weil es den Ländern um uns herum weitestgehend schlechter geht als uns — wir leben hier in einer äusserst privilegierten Situation. Und weil wir dann wieder einmal Pioniere wären und unser Wissen weitergeben könnten.
Gibt es keine Bedenken bezüglich einem Grundeinkommen? Doch. Ich frage mich, ob sich das bedingungslose Grundeinkommen für Teilzeit-Arbeits modelle eher nachteilig auswirken würde. Wenn ich mit einem Vierzigprozentjob das gleiche Einkommen erziele wie mit dem Grundeinkommen, ist die Motivation nicht besonders gross, arbeiten zu gehen. Das fände ich schade, da wir künftig stärker auf Teilzeitarbeit setzen müssen.
Ein Grundeinkommen könnte aber auch zu flexibleren Arbeitsmodellen führen. Gut möglich. Ich bin mit einem Hausmann als Vater aufgewachsen, meine Mutter ging arbeiten. Ich hoffe, dass solche Konstellationen mit dem Grundeinkommen noch selbstverständlicher wür den. Mehr Flexibilität hätte sicherlich zur Folge, dass viele Menschen motivierter und relaxter bei der Arbeit wären.
Die Grundeinkommens-Initiative wird von vielen belächelt — und doch hat sie eine ungeheure Sprengkraft. Warum? Die Welt ist ja nicht aus Zufall so, wie sie ist. Sie ist so, weil es immer Menschen gegeben hat, die Dinge neu gedacht haben. Grosse Dinge, die für uns heute selbstverständlich sind, sind das Resultat einer grossen Idee aus der Vergangenheit. Das bedingungslose Grundeinkommen ist so eine grosse Idee.
Debbie Zedi ist Leiterin Marketing der Zürcher Hochschule der Künste. Nach der Matura arbeitete sie bei einem Telekommunikationsanbieter, danach für eine Ideenfabrik, für eine Fotoagentur und als Creative Director in einer Eventagentur. Zedi absolvierte ihre Ausbildung zur Kommunikationsplanerin und den Master in Business Communications berufsbegleitend. Das Interview führte Nadja Schnetzler f ür eine Sondernummer der Zeitschrift «bref» . Fotos: Laurent Burst.
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