Institut Zukunft
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Ort
Zürich
Gegründet
2015
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1
«Gesellschaftsprozesse anders denken»
Die Soziologin Sarah Schilliger (36) ist davon überzeugt, dass dank einem bedinungslosen Grundeinkommen Männer ihr Arbeitspensum reduzieren und sich mehr an der Haus- und Familienarbeit beteiligen würden. Gleichzeitig warnt sie davor, dass die Initiative zu einer neoliberalen Utopie pervertiert werden könnte.Für eine Sondernummer der Zeitschrift «bref» führte die Journalistin Nadja Schnetzler Gespräche mit zwölf Frauen unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen beruflichen, religiösen, finanziellen und familiären Hintergründen — mit Gegnerinnen, Skeptikerinnen und Befürworterinnen des Grundeinkommens. Frau Schilliger, Feministinnen befürchten, dass sich durch ein Grundeinkommen Frauen noch stärker in der Fürsorge engagieren. Könnten tatsächlich grosse feministische Errungenschaften der letzten dreissig Jahre verloren gehen? Das ist ein Horrorszenario für jene, die noch geprägt sind von der Hausfrauennorm von vor dreissig bis sechzig Jahren. Damals war eine Forderung der Frauenbewegung, dass sich Frauen vermehrt in die Erwerbsarbeit integrieren und sich dadurch emanzipieren. Die Realität ist heute aber eine komplett andere. Für Frauen ist das Recht auf Erwerbsarbeit zunehmend zu einer Pflicht zur maximalen Erwerbsbeteiligung geworden. Wer fordert dies im politischen Prozess? Heute wird insbesondere von der Wirtschaft propagiert, dass Frauen eine Erwerbsarbeit leisten müssen, um jeden Preis. Das geht sogar so weit, dass man sagt: Frauen, die studiert haben, sollen Strafgebühren bezahlen, wenn sie nach der Familiengründung keine Erwerbs arbeit leisten. Die USSozialphilosophin Nancy Fraser sieht vielmehr die Männer in der Pflicht. Ihr Verhalten werde darüber entscheiden, wie die Verteilung von Erwerbs- und Fürsorgearbeit in Zukunft aussehen wird.Inwiefern? Wenn sich Männer nicht weitaus mehr an der Haus- und Familienarbeit beteiligen, wird es keine geschlechterge rechte Gesellschaft geben. Ein Grundeinkommen könnte die Bedingungen dafür verbessern: Väter würden ermutigt, ihre Erwerbstätigkeit zu reduzieren und auch vermehrt Teilzeit zu arbeiten. Zudem wären Frauen finanziell unabhängiger.Jede Person soll also den Dingen nach gehen, die sie erfüllt und mit denen sie einen Beitrag zur Gesellschaft leisten kann? Ja. Ich sehe das Grundeinkommen auch als eine Chance, über traditionelle Strategien hinauszugehen. Es hat das Potenzial, einige Gewissheiten zu hinter fragen. So zum Beispiel jene, dass wir am besten in abgeschlossenen, kleinfamiliären Einheiten leben. Vielleicht würden sich vermehrt Menschen fragen, wie wir uns gemeinschaftlich organisieren könnten. Heute sehe ich viele Paare mit Kindern, die komplett im Hamsterrad von Job und Kinderbetreuung gefangen sind.Wo sehen Sie Schwierigkeiten beim Grundeinkommen? Die Finanzierung ist für mich ein zentraler Punkt. Wie soll sie bewerkstelligt werden? Im Initiativtext wird über die Art der Finanzierung leider gar nichts gesagt. Wohl auch, weil man noch nicht zu viel vorgeben möchte. Diese Diskussion muss aber sehr ernsthaft und genau geführt werden, da es viele offene Fragen bei der Finanzierung zu klären gilt. Die da wären? Die Frage ist, ob wir das Grundeinkommen lediglich aus Mehrwertsteuern finanzieren oder aus progressiven Steuern auf Einkommen und Vermögen. Letzteres hätte einen gerechten Umverteilungseffekt. Zudem befürchte ich, dass das Grundeinkommen auch für eine neoliberale Utopie missbraucht wer den könnte, indem die heutigen Sozial leistungen durch das Grundeinkommen vollkommen ersetzt würden.Als Soziologin beobachten Sie, wie und warum sich Gesellschaften verändern. Die Einführung eines Grundeinkommens wäre der Start einer länger dauernden Veränderung. Gibt es vergleich bare andere Prozesse?Die gibt es. Beispielsweise die Veränderung bei den Rollenbildern und Geschlechterstereotypen. Wir sehen, dass diese Veränderung viel Zeit benötigt. Insbesondere die Einstellungen in unseren Köpfen verändern sich nicht von heute auf morgen. Die Emanzipation der Frauen zum Beispiel und der Aufbau einer geschlechtergerechteren Gesellschaft sind noch immer auf der Tagesordnung, und weiterhin kämpft die feministische Bewegung dafür. Die Einführung eines Grundeinkommens wäre der Startschuss für eine langwierige Veränderung, eine Art Transformation. Aber selbst jetzt, wo wir dieses Interview führen und sich eine Gesellschaft in einem Entscheidungsprozess befindet, sind wir alle bereits Teil davon. Veränderungen, die rascher vonstatten gehen, erwachsen aus Migrationsströmen. Die Idee des Grundeinkommens ist, dass jeder, der in der Schweiz lebt, dieses erhält. Also auch Flüchtlinge. Wie finden Sie das? Das ist eine Knacknuss, die unbedingt diskutiert werden muss. Denn häufig wird in Diskussionen um das Grundeinkommen nicht näher darauf eingegangen, wer alles ein Grundeinkommen erhalten würde. Also alle rechtmässig ansässigen Menschen? Alle Staatsbürger? Oder jene, die sich dauerhaft in einem Land aufhalten? Und was heisst dauerhaft: nach fünf, nach zwei Jahren, nach einem Jahr? Wir müssen das diskutieren. Auch um dem Argument von rechter Seite entgegenzutreten, dass ein Grundeinkommen nur den Sozialschmarotzer-Tourismus fördert.Ein Teil der Gesellschaft erhält ein Grundeinkommen, ein anderer nicht. Würde das nicht neue Probleme schaffen? Ja. Deshalb muss die Idee des Grund einkommens zwingend mit der Frage der globalen Bewegungsfreiheit verbunden geführt werden — und langfristig müsste die Idee transnationalisiert werden. Wird das Grundeinkommen nur in der Schweiz eingeführt, werden mit Sicherheit Regeln aufgestellt, die Zäune zur Folge haben. Und genau das läuft der Idee eines Grundeinkommens zuwider.An welchen Themen sind Sie als Soziologin besonders stark interessiert? Ich will Ungleichheiten und Machtverhältnisse aufspüren. Ausgehend von konkreten Realitäten und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen versuche ich, Gesellschaftsprozesse zu verstehen und anders zu denken. Es ist ja nicht so, dass wir be reits in der besten aller möglichen Gesellschaften leben. Gibt es da erfolgversprechende Ideen?Soziale Bewegungen von unten, die selbstorganisiert sind, die neue Wege des Zusammenlebens erproben, finde ich spannend. Hier werden konkrete Utopien entworfen. Antworten auf derzeitige gesellschaftliche Herausforderungen können wir nicht am Schreibtisch erfinden, sondern nur in konkreten und alltäglichen sozialen Kämpfen. Ich bin selbst in verschiedenen Bewegungszusammenhängen engagiert. Politisches Engagement und wissenschaftliche Arbeit befruchten sich dabei gegenseitig. Ich will diese Bereiche auch nicht strikt voneinander trennen. Es braucht eine engagierte Wissenschaft, die sich einmischt.Viele Menschen sind mit dem Status quo zufrieden und wollen sich nicht weiter in gesellschaftliche Diskurse ein bringen. Ich glaube aber nicht, dass es einfach am fehlenden Interesse liegt, dass Menschen sich nicht politisch engagieren. Damit soziale Bewegungen entstehen, braucht es mindestens drei Dinge: Ressourcen, ein Kollektiv von Menschen und gemeinsame Perspektiven, die man verfolgen will. Ressourcen zu haben ist eine wichtige Voraussetzung, um überhaupt befähigt zu werden, sich zu engagieren. Nicht alle haben diese Ressourcen, insbe sondere die nötigen zeitlichen Kapazitäten. Viele Menschen sind ganz einfach damit beschäftigt, ihr Leben einigermassen im Griff zu haben. Dann braucht es ein Kollektiv, in dem man sich bewegen kann. Für die Entstehung von gesellschaftlichen Bewegungen sind soziale Räume und Möglichkeiten zentral, um miteinander in einen Austausch zu kommen.Ein Grundeinkommen könnte helfen, Zeit zu schaffen für vermehrtes Engagement. Absolut. Das Grundeinkommen schafft für alle Freiräume zum Denken, Ausprobieren und Handeln. Einige haben das heute schon, aber anderen wird das verwehrt, weil sie wegen langer Arbeitszeiten und sozialer Verpflichtungen wenig Autonomie in ihrer Alltagsgestal tung haben. Das Grundeinkommen bietet die Möglichkeit, sich stärker entlang von eigenen Fähigkeiten und Interessen zu entwickeln. Wenn ich Lust habe, mich weiterzubilden, kann ich das tun. Wenn ich lieber in der Nachbarschaft einen Gemeinschaftsgarten anlegen möchte, ebenfalls. Sarah Schilliger studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie an der Universität Zürich. Ihre Doktorarbeit handelt von Frauen aus Osteuropa, die in der Schweiz als Wanderarbeiterinnen in der Pflege arbeiten. Heute ist sie Oberassistentin und Lehrbeauftragte am Seminar für Soziologie der Universität Basel. Fotos: Laurent BurstZwölf Gespräche zum bedingungslosen Grundeinkommen.
«Gesellschaftsprozesse anders denken»
Die Soziologin Sarah Schilliger (36) ist davon überzeugt, dass dank einem bedinungslosen Grundeinkommen Männer ihr Arbeitspensum reduzieren und sich mehr an der Haus- und Familienarbeit beteiligen würden. Gleichzeitig warnt sie davor, dass die Initiative zu einer neoliberalen Utopie pervertiert werden könnte. Für eine Sondernummer der Zeitschrift «bref» führte die Journalistin Nadja Schnetzler Gespräche mit zwölf Frauen unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen beruflichen, religiösen, finanziellen und familiären Hintergründen — mit Gegnerinnen, Skeptikerinnen und Befürworterinnen des Grundeinkommens.
Frau Schilliger, Feministinnen befürchten, dass sich durch ein Grundeinkommen Frauen noch stärker in der Fürsorge engagieren. Könnten tatsächlich grosse feministische Errungenschaften der letzten dreissig Jahre verloren gehen? Das ist ein Horrorszenario für jene, die noch geprägt sind von der Hausfrauennorm von vor dreissig bis sechzig Jah ren. Damals war eine Forderung der Frau enbewegung, dass sich Frauen vermehrt in die Erwerbsarbeit integrieren und sich dadurch emanzipieren. Die Realität ist heute aber eine komplett andere. Für Frauen ist das Recht auf Erwerbsarbeit zunehmend zu einer Pflicht zur maximalen Erwerbsbeteiligung geworden.
Wer fordert dies im politischen Prozess? Heute wird insbesondere von der Wirtschaft propagiert, dass Frauen eine Erwerbsarbeit leisten müssen, um jeden Preis. Das geht sogar so weit, dass man sagt: Frauen, die studiert haben, sollen Strafgebühren bezahlen, wenn sie nach der Familiengründung keine Erwerbs arbeit leisten. Die USSozialphilosophin Nancy Fraser sieht vielmehr die Männer in der Pflicht. Ihr Verhalten werde darüber entscheiden, wie die Verteilung von Erwerbs- und Fürsorgearbeit in Zukunft aussehen wird.
Inwiefern? Wenn sich Männer nicht weitaus mehr an der Haus- und Familienarbeit beteiligen, wird es keine geschlechterge rechte Gesellschaft geben. Ein Grundein kommen könnte die Bedingungen dafür verbessern: Väter würden ermutigt, ihre Erwerbstätigkeit zu reduzieren und auch vermehrt Teilzeit zu arbeiten. Zudem wären Frauen finanziell unabhängiger.
Jede Person soll also den Dingen nach gehen, die sie erfüllt und mit denen sie einen Beitrag zur Gesellschaft leisten kann? Ja. Ich sehe das Grundeinkommen auch als eine Chance, über traditionelle Strategien hinauszugehen. Es hat das Potenzial, einige Gewissheiten zu hinter fragen. So zum Beispiel jene, dass wir am besten in abgeschlossenen, kleinfamiliären Einheiten leben. Vielleicht würden sich vermehrt Menschen fragen, wie wir uns gemeinschaftlich organisieren könnten. Heute sehe ich viele Paare mit Kin dern, die komplett im Hamsterrad von Job und Kinderbetreuung gefangen sind.
Wo sehen Sie Schwierigkeiten beim Grundeinkommen? Die Finanzierung ist für mich ein zentraler Punkt. Wie soll sie bewerkstelligt werden? Im Initiativtext wird über die Art der Finanzierung leider gar nichts gesagt. Wohl auch, weil man noch nicht zu viel vorgeben möchte. Diese Diskussion muss aber sehr ernsthaft und genau geführt werden, da es viele offene Fragen bei der Finanzierung zu klären gilt.
Die da wären? Die Frage ist, ob wir das Grundeinkommen lediglich aus Mehr wertsteuern finanzieren oder aus progres siven Steuern auf Einkommen und Vermögen. Letzteres hätte einen gerechten Umverteilungseffekt. Zudem befürchte ich, dass das Grundeinkommen auch für eine neoliberale Utopie missbraucht wer den könnte, indem die heutigen Sozial leistungen durch das Grundeinkommen vollkommen ersetzt würden.
Als Soziologin beobachten Sie, wie und warum sich Gesellschaften verändern. Die Einführung eines Grundeinkommens wäre der Start einer länger dauernden Veränderung. Gibt es vergleich bare andere Prozesse? Die gibt es. Beispielsweise die Veränderung bei den Rollenbildern und Geschlechterstereotypen. Wir sehen, dass diese Veränderung viel Zeit benötigt. Insbesondere die Einstellungen in unseren Köpfen verändern sich nicht von heute auf morgen. Die Emanzipation der Frauen zum Beispiel und der Aufbau einer geschlechtergerech teren Gesellschaft sind noch immer auf der Tagesordnung, und weiterhin kämpft die feministische Bewegung dafür. Die Einführung eines Grundeinkommens wäre der Startschuss für eine langwierige Veränderung, eine Art Transformation. Aber selbst jetzt, wo wir dieses Interview führen und sich eine Gesellschaft in einem Entscheidungsprozess befindet, sind wir alle bereits Teil davon.
Veränderungen, die rascher vonstatten gehen, erwachsen aus Migrationsströmen. Die Idee des Grundeinkommens ist, dass jeder, der in der Schweiz lebt, dieses erhält. Also auch Flüchtlinge. Wie finden Sie das? Das ist eine Knacknuss, die unbedingt diskutiert werden muss. Denn häufig wird in Diskussionen um das Grundeinkommen nicht näher darauf eingegangen, wer alles ein Grundeinkommen erhalten würde. Also alle rechtmässig ansässigen Menschen? Alle Staatsbürger? Oder jene, die sich dauerhaft in einem Land aufhalten? Und was heisst dauerhaft: nach fünf, nach zwei Jahren, nach einem Jahr? Wir müssen das diskutieren. Auch um dem Argument von rechter Seite entgegenzutreten, dass ein Grundeinkommen nur den Sozialschmarotzer-Tourismus fördert.
Ein Teil der Gesellschaft erhält ein Grundeinkommen, ein anderer nicht. Würde das nicht neue Probleme schaf fen? Ja. Deshalb muss die Idee des Grund einkommens zwingend mit der Frage der globalen Bewegungsfreiheit verbunden geführt werden — und langfristig müsste die Idee transnationalisiert werden. Wird das Grundeinkommen nur in der Schweiz eingeführt, werden mit Sicherheit Regeln aufgestellt, die Zäune zur Folge haben. Und genau das läuft der Idee eines Grund einkommens zuwider.
An welchen Themen sind Sie als Soziologin besonders stark interessiert? Ich will Ungleichheiten und Machtverhältnis se aufspüren. Ausgehend von konkreten Realitäten und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen versuche ich, Gesellschaftsprozesse zu verstehen und anders zu denken. Es ist ja nicht so, dass wir be reits in der besten aller möglichen Gesellschaften leben.
Gibt es da erfolgversprechende Ideen? Soziale Bewegungen von unten, die selbstorganisiert sind, die neue Wege des Zusammenlebens erproben, finde ich spannend. Hier werden konkrete Utopien entworfen. Antworten auf derzeitige gesellschaftliche Herausforderungen können wir nicht am Schreibtisch erfinden, sondern nur in konkreten und alltäglichen sozialen Kämpfen. Ich bin selbst in verschiedenen Bewegungszusammenhängen engagiert. Politisches Engagement und wissenschaftliche Arbeit befruchten sich dabei gegenseitig. Ich will diese Bereiche auch nicht strikt voneinander trennen. Es braucht eine engagierte Wissenschaft, die sich einmischt.
Viele Menschen sind mit dem Status quo zufrieden und wollen sich nicht weiter in gesellschaftliche Diskurse ein bringen. Ich glaube aber nicht, dass es einfach am fehlenden Interesse liegt, dass Menschen sich nicht politisch engagieren. Damit soziale Bewegungen entstehen, braucht es mindestens drei Dinge: Ressourcen, ein Kollektiv von Menschen und gemeinsame Perspektiven, die man verfol gen will. Ressourcen zu haben ist eine wichtige Voraussetzung, um überhaupt befähigt zu werden, sich zu engagieren. Nicht alle haben diese Ressourcen, insbe sondere die nötigen zeitlichen Kapazitäten. Viele Menschen sind ganz einfach damit beschäftigt, ihr Leben einigermassen im Griff zu haben. Dann braucht es ein Kollektiv, in dem man sich bewegen kann. Für die Entstehung von gesellschaftlichen Bewegungen sind soziale Räume und Möglichkeiten zentral, um miteinander in einen Austausch zu kommen.
Ein Grundeinkommen könnte helfen, Zeit zu schaffen für vermehrtes Engagement. Absolut. Das Grundeinkommen schafft für alle Freiräume zum Denken, Ausprobieren und Handeln. Einige haben das heute schon, aber anderen wird das verwehrt, weil sie wegen langer Arbeitszeiten und sozialer Verpflichtungen wenig Autonomie in ihrer Alltagsgestal tung haben. Das Grundeinkommen bietet die Möglichkeit, sich stärker entlang von eigenen Fähigkeiten und Interessen zu entwickeln. Wenn ich Lust habe, mich weiterzubilden, kann ich das tun. Wenn ich lieber in der Nachbarschaft einen Gemeinschaftsgarten anlegen möchte, ebenfalls.
Sarah Schilliger studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie an der Universität Zürich. Ihre Doktorarbeit handelt von Frauen aus Osteuropa, die in der Schweiz als Wanderarbeiterinnen in der Pflege arbeiten. Heute ist sie Oberassistentin und Lehrbeauftragte am Seminar für Soziologie der Universität Basel.
Fotos: Laurent Burst Zwölf Gespräche zum bedingungslosen Grundeinkommen .
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«Demokratie muss experimentieren»
Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot (50) hält die Ökonomisierung der Gesellschaft für ein grosses Defizit. Sie macht sich um jene Menschen Sorgen, die wir politisch und kulturell von unserem Gemeinwesen ausgeschlossen haben. Für eine Sondernummer der Zeitschrift «bref» führte die Journalistin Nadja Schnetzler Gespräche mit zwölf Frauen unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen beruflichen, religiösen, finanziellen und familiären Hintergründen — mit Gegnerinnen, Skeptikerinnen und Befürworterinnen des Grundeinkommens.
Frau Guérot, könnte die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens Europa dabei helfen, den Menschen gleichen Zugang zu sozialen Rechten zu geben? Da bin ich zuerst einmal skeptisch, und zwar aus ethischen Gründen. Ich finde die Grenzziehung zwischen Eigenverantwortung und Verantwortung der Allgemeinheit eigentlich eine sehr vernünftige Idee. Das Problem bei egalitären Ideen ist, dass man die Trittbrettfahrer nicht richtig aussortieren kann. Ist es moralisch für jeden Menschen gut, wenn er einfach einen fixen Betrag zur Verfügung hat? Gibt ihm das Antrieb? Ich finde, dass man eher denen helfen soll, die wirklich Hilfe brauchen.
Wer heute aber Sozialhilfe benötigt, muss in fast allen Ländern eine aufwendige und demütigende Rechtfertigungsmaschine durchlaufen, um Hilfe zu bekommen. Ich bin auch der Meinung, dass die Ökonomisierung der Gesellschaft ein grosses Defizit ist, in der wichtige gesellschaftliche Arbeit nicht mehr finanziell wertgeschätzt wird. Und oft leisten bedürftige Personen wie alleinerziehende Mütter eine solche Arbeit. Vielleicht kann ein «Vorschussbetrag», den ich bekomme, noch bevor ich etwas leiste, auch kreative Gestaltungs kraft freisetzen. Daraus kann etwas ent stehen, das nachher für die Wertschöpfung gut ist.
Wären Sie Ihrer beruflichen Leiden schaftgefolgt, wenn Sie einen fixen Betrag pro Monat erhalten hätten, als Sie sich für eine Laufbahn entscheiden durften? Ja, das hätte ich tatsächlich den noch gemacht. Das was ich tue, begeistert mich. Ich denke auch, dass sehr viele Menschen einen inneren Antrieb haben. Es gibt aber auch Menschen, denen dieser Antrieb fehlt. Die dritte Generation von Erben in Deutschland zum Beispiel, die haben oft keinen gesellschaftlichen Antrieb, keine Gemeinwohlorientierung mehr, sondern nur noch Geld. Mir macht aber vor allem das untere Fünftel der Menschen Sorgen, die wir politisch und kulturell de facto von unserem Gemeinwesen ausgeschlossen haben und die sich konsequenterweise von der Gesellschaft verabschiedet haben, indem sie nicht ein mal mehr wählen. Was machen wir mit denen?
Das hat aber nichts mit dem Grundeinkommen als vielmehr mit dem Bildungssystem zu tun. Richtig. Im Bildungssystem haben wir ja so ziemlich alles zusammengestrichen, was Kinder zu kritischen und kreativen Bürgern machen könnte: Kunst, Musik oder Geisteswissen schaften mussten den Angeboten weichen, die Kinder und Jugendliche zu tauglichen Arbeitstieren in unserem Wirtschaftssystem machen. Wir setzen mehr auf «Ausbildung» als auf Bildung. Und die kreativen, intelligenten Kinder aus Unterschichten, die identifizieren wir heute gar nicht mehr. Obwohl wir wissen, dass wir gerade diese gezielt fördern müssten.
Würde ein bedingungsloses Grund einkommen dies ändern? Man kann jedenfalls darüber debattieren, ob ein Grundeinkommen etwas dazu beitragen könnte, unsere heutige pervertierte Form der Ökonomisierung aller Bereiche des menschlichen Lebens zu ändern. Ausserdem hätte die Idee den Vorteil, dass man nicht mehr darüber debattieren müsste, wer denn jetzt unter welchen Voraussetzungen überhaupt Hilfe verdient hat, mit welcher Behinderung man noch arbeiten kann und muss, oder ob man von einer alleinerziehenden Mutter erwartet, dass sie einer Erwerbsarbeit nachgeht.
Welche Demokratieform ist besser geeignet, solch rasche und radikale Entscheide zu fällen? Die repräsentative Demokratie oder die direkte Demokra tie, wie wir sie in der Schweiz kennen? Ich stehe klar auf dem Boden der reprä sentativen Demokratie. Unzählige Studien zeigen, dass bei Initiativen nur motivierte Wähler zur Urne gehen, die ihr politisches Ziel punktuell durchsetzen wollen, und dann nur vermeintliche Mehrheiten dabei herauskommen. Wobei die Wahlbeteiligung insgesamt deutlich unter fünfzig Prozent lag. In komplexen politischen Systemen sind immer Kompromisse erforderlich, die man in zugespitzten Referendumsfragen schlecht abbilden kann. Und dann ist es immer auch leichter, einfach mit Nein zu stimmen und einfach gegen etwas zu sein, als die politische Verantwortung für ein kompliziertes Ja zu übernehmen.
Was sind die Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie? Der politische Diskurs, der zu neuen gesellschaftlichen Entscheidungen führt, muss in einer Demokratie auch wirklich funktio nieren. Wenn ein Fünftel der Bevölkerung de facto sozial ausgegrenzt ist und keine adäquate Bildung mehr bekommt, die die sen Namen verdient hat, dann kann ein Fünftel der Bevölkerung sich auch keine richtige Meinung mehr bilden und hat da mit auch keine politische Teilhabe mehr. Das ist eine gefährliche Tendenz, die wir in den USA und in vielen europäischen Demokratien sehen.
Was passiert dann? Wir haben dadurch immer mehr Bürger, die sich von unter komplexen, populistischen Antworten auf komplexe gesellschaftliche Sachverhalte verführen lassen oder, noch schlimmer, nur noch über Angst, Emotionen und Res sentiments funktionieren. Deshalb finde ich den oft gebrauchten Satz «Man muss die Bürger da abholen, wo sie sind» sehr problematisch. «Abholen» reicht nicht, weil wir die Bürger dann an einem Ort ab holen, der uninformiert, uninspiriert und oft brandgefährlich ist.
Was müssen wir stattdessen tun? Wir sollten dafür sorgen, dass die Bürger wieder an Debatten teilhaben können, dass sie Sachargumente gewichten können und mit moralischen Kriterien konfrontiert werden, kurz, dass sie wieder denken lernen. Das eigene Denken und Gewissen auszuschalten hat Menschen schon ein mal in der Geschichte zu willigen Vollstreckern schrecklicher Dinge gemacht. Han nah Arendt sprach von der «Banalität des Bösen». Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen nachdenken können und wol len, bevor sie sich eine Meinung bilden.
Könnte man also sagen: Die Demokratie ist kaputt? Wenn Sie wollen, können Sie sagen: The system is broken. Ja. Wir haben eine Krise des demokratischen Kapitalismus, und das gilt ganz besonders für das Governance-System der Eurozone.
Sie arbeiten im «Democracy Lab». Das klingt nach einem Ort, wo Experimente gemacht werden. Wie sehen die aus? Wir haben damit angefangen, über Europa nicht mehr als Bundesstaat oder Staatenbund, sondern als Republik zu spre chen. «Am Anfang war das Wort», steht im Johannesevangelium, oder die Kinderärz tin und Forscherin Françoise Dolto sagte: «Alles ist Sprache.» Wie wir etwas benennen, macht einen grossen Unterschied. Es bestimmt, wie wir dazu in Beziehung stehen, ob es uns emotional anspricht oder ob es abstrakt bleibt. Ob wir über die «Ver einigten Staaten von Europa» oder über die «Republik Europa» sprechen, ist nicht gleichgültig. Das war das erste Experiment: das Projekt Europa neu zu denken, indem wir neue Begriffe dafür verwenden. Denn aus Gedanken werden Worte, und aus Worten werden Taten. Wir möchten herausfinden, was passiert, wenn wir mit europäischen Bürgerinnen und Bürgern über Europa als Republik, als «res publica europea» als Allgemeingut oder Gemeinwesen im Sinne von Aristoteles sprechen.
Ist eine Demokratie dazu geeignet, solch grosse Paradigmenwechsel wie beispielsweise ein Grundeinkommen einzuläuten? Strukturelle Behäbigkeit ist ein Wesen der Demokratie. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier; ich merke es auch am eigenen Leib, wie schwierig es ist, eigene Gewohnheiten zu ändern. Je älter man wird, desto schwieriger wird das. Auf Gesellschaften übertragen stimmt das auch. Oft ist die Veränderung erst dann möglich, wenn der Leidensdruck zu gross ist. Dennoch ist die Demokratie immer grundsätzlich stabiler als die Herrschaft Einzelner. Beim «wohlwollenden König» zum Beispiel weiss man ja nie, wie «wohl wollend» der auf Dauer bleibt.
Eignet sich eine Demokratie überhaupt für Experimente? Und wie kann eine Demokratie mit Rückschlägen umgehen, die durch das Einschlagen eines falschen Wegs entstehen? Die Demo kratie ist sogar das einzige Gemeinwesen, die einzige Organisationsform, in der dies im Idealfall möglich ist. Denn sie erneuert sich selbst ständig und sagt: Lasst uns den Kurs, den wir eingeschlagen haben, korrigieren. Wir können immer wieder über Dinge abstimmen, die uns nicht gefallen. Wir können — in einer funktionierenden Demokratie prinzipiell die Personen wählen, die unsere Bedürfnisse und Meinungen tatsächlich vertreten. Ja, Demokratie kann und muss experimentieren.
Was sorgt in einer Demokratie dafür, dass neue Ideen umgesetzt werden? Eine Gesellschaft sollte immer nach der Utopie streben, auch wenn man dort nie wirklich ankommt. Wenn wir die Utopie aus den Augen verlieren, dann haben wir insgesamt verloren, dann verlieren wir den moralischen Anspruch auf Verbes serung der Welt, dann ist wirklich alles vermeintlich alternativlos.
Was wäre ein Beispiel einer solchen Utopie? Gesellschaftliche Gerechtigkeit ist eine solche Utopie. Wir wissen, dass sie nie ganz erreicht wird, aber wir streben danach. Und dieses Ideal steuert dann auch unseren Diskurs, weil wir wissen, wonach wir streben.
Ulrike Guérot ist Gründerin und Direktorin des «European Democracy Lab» in Berlin. Die Politik wissenschaftlerin beschäftigt sich mit der Zukunft der europäischen Demokratie und erhielt dafür 2003 den nationalen Verdienstorden Frankreichs. Guérot hat zwei erwachsene Söhne und lebt in Berlin.
Fotos: Laurent Burst Zwölf Gespräche zum bedingungslosen Grundeinkommen .
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«Frauen wären mutiger, ihr eigenes Ding durchzuziehen»
Katie Pietsch (32) verdiente als Chemikerin gutes Geld in der Pharmabranche. Dann entdeckte sie ihre Liebe zum Bierbrauen. Der Wechsel zur selbständigen Brauerin und somit in eine finanziell unsichere Zukunft hat ihr viel Courage abverlangt. Zurzeit verdient sie zwei Franken — pro Stunde. Für eine Sondernummer der Zeitschrift «bref» führte die Journalistin Nadja Schnetzler Gespräche mit zwölf Frauen unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen beruflichen, religiösen, finanziellen und familiären Hintergründen — mit Gegnerinnen, Skeptikerinnen und Befürworterinnen des Grundeinkommens.
Frau Pietsch, bis zur Gesprächsanfrage kannten Sie die Idee von einem Grund einkommen nicht. Ihr erster Gedanke dazu? Er galt meiner sehr konservativen republikanischen Grossmutter. Sie würde sich bestimmt aufregen, dass da Menschen wieder «Handouts», also Almosen, erhalten, anstatt sich selber um ihren Er folg zu bemühen. Und man stelle sich vor, dass nun plötzlich jeder Einwohner Almosen bekommen soll — unvorstellbar! «Faul und unverantwortlich ist das», würde sie sagen.
Und was halten Sie von der Idee? Ich sehe darin die Chance, dass ich wohl ra scher und freier den Entscheid gefällt hätte, mich dem Bierbrauen zuzuwenden. Ich konnte mich ja nur für meinen neuen Job entscheiden, weil eine Person aus meinem Umfeld mein finanzielles Risiko bis heute mitträgt. Mit einem Grundeinkommen wäre ich nicht abhängig von ihr. Und vermutlich hätte ich eine solche Entscheidung mit weniger Schuldgefühlen getroffen.
Inwiefern verändert ein Grundeinkom men das Verhalten der Menschen? Wenn der Staat das Risiko des Scheiterns ein Stück weit mitträgt, dann würden Menschen wohl mehr wagen und auch eher das tun, was sie wirklich gerne tun und auch gut können. Heute treffen wir Entscheide oft aus finanziellen Gründen und lassen uns dabei von vermeintlich vernünftigen Gründen leiten. Das Herz und die Leidenschaft haben da wenig zu melden. Als Chemikerin würde ich sagen: Das Grundeinkommen senkt die Aktivierungsbarriere für Lebensentscheidungen.
Wie ist es, eine Arbeitsstelle aufzugeben und selbständige Bierbrauerin zu werden? Ein unglaublicher Schritt. Ich bin die älteste Tochter. Die also, welche die Eltern stolz machen sollte – und auch die, welche die «guten Entscheide» treffen sollte. Und dann entscheide ich mich nach einer so langen Ausbildung für einen aus der Sicht meiner Eltern «einfachen» Job. Das hat ganz schön Mut gebraucht, ganz abgesehen von den finanziellen Folgen.
Trotzdem haben Sie den Schritt gewagt. Ja. Auch, weil ich über ein Backup verfüge, wenn es mit dem Bierbrauen nicht klappt: Ich kenne meinen Wert als Chemikerin. Ich könnte jederzeit wieder in die Pharmabranche zurückkehren.
Kleines Gedankenexperiment: Das Grundeinkommen ist eingeführt. Was wäre anders in der Pharmabranche? Wohl gar nicht so viel. Es wird immer die Menschen geben, die diese gutbezahlten und prestigeträchtigen Positionen suchen. Mit dem Grundeinkommen könnten sie sich vielleicht aber eine Weiterbildung finanzieren, die sie sonst nicht machen würden. Oder ihren Job auf Teilzeit reduzieren, um sich um Kinder zu kümmern — oder generell etwas Gutes für die Gesellschaft tun.
Wie viele würden abspringen, ihr eige nes Ding machen? Die Karriere zu wechseln, so wie ich es getan habe, wäre sicher immer noch ungewöhnlich. Es würde immer noch Mut erfordern. Hätte ich zum Beispiel Kinder oder eine Hypothek, hätte ich diese Entscheidung wohl nicht getroffen, vermutlich auch nicht mit einem bedingungslosen Grundeinkommen. Dann hätte ich vielleicht einmal im Jahr unbezahlten Urlaub genommen, um Bier zu brauen. Das wäre ja auch in Ordnung, aber natürlich nicht genau das gleiche.
Wie hart ist Ihre Arbeit als Bierbrauerin? Körperlich ist sie schon sehr hart, Zwölfstundentage sind keine Seltenheit. Nur: Es fühlt sich für mich nicht wie Ar beit an, da es das ist, was ich machen möchte. Selbst das wenig spassige Fässer reinigen ist okay, weil es einfach ein Beitrag zu meinem Ziel ist: Alles über das Bierbrauen zu wissen. Solange ich immer etwas dazulernen kann, nehme ich solche Arbeiten in Kauf.
Und welche Arbeiten hast du in deinem früheren Job in Kauf genommen? Ich arbeitete in einer sehr grossen Firma, und da nimmt man einfach unglaublich viele Dinge in Kauf, die gar nichts mit der effek tiven Tätigkeit zu tun haben. Sie sind dann einfach nur Teil von Politik, administrativer Arbeit oder unproduktiver Tätigkeit. Viele Mitarbeitende verlieren darin ganz rasch das höhere Ziel aus den Augen. Sie arbeiten dann halt, um das Geld zu be kommen, und suchen sich in der Freizeit einen Ausgleich. Auch lassen sich in einer Firma schlechte Prozesse oder Dinge, die einen stören, kaum verändern. Oder es geht extrem lange, bis sich etwas ändert. Eine Firma in der Industrie ist ein Flugzeugträger. Meine kleine Bierbrauerei ist aber ein Schnellboot. Das ist unglaublich befriedigend.
Kritiker befürchten, ein Grundeinkom men führe dazu, dass niemand mehr arbeiten will. Es wird Menschen geben, die tatsächlich mit diesem Einkommen zufrieden sind und sehr bescheiden nur mit diesen Mitteln leben werden. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass es weiterhin viele Menschen geben wird, die etwas bei tragen wollen. Sei es für Kunden, für die Gesellschaft oder für den Staat. Vielleicht verlangt ein bedingungsloses Grundeinkommen auch eine andere Erziehung. Wenn Kinder und Jugendliche lernen, dass sie sich für das entscheiden können, was sie wirklich gut können und gerne tun, dann reift ein ganz neues Denken her an. Im Zentrum würde dann stehen, dass wir uns mehrmals im Leben neu erfinden können – und dies ganz ohne existenzielle Angst. Das würde das Leben sehr viel spannender machen.
Wie viel verdienen Sie eigentlich als Bierbrauerin? Jetzt gerade verdiene ich ungefähr zwei Franken pro Stunde. Ich arbeite aber noch nebenher in einer Bar.
Was bedeutet Ihnen Geld? Für mich ist Geld ein Werkzeug, das mir erlaubt, be stimmte Dinge zu tun. Hier zu leben zum Beispiel. Oder genügend Geld zu haben, um mir Lebensmittel zu kaufen und viel leicht einmal im Jahr meine Familie in den USA zu besuchen. Mir ist Geld nicht un wichtig, aber der Betrag ist mir heute egal. Mein Berufswechsel hat meine Perspektive aufs Geld drastisch verändert. In meinem alten Job dachte ich immer: Du musst für deine Pensionskasse sparen, Geld sparen, um in die Ferien zu fahren, und Geld, um grössere Dinge zu kaufen. Heute tu ich das, was ich wirklich gerne mache, und alles andere ist wenig wichtig oder sogar unwichtig. Früher verglich ich mich auch mit anderen, die den gleichen Job hatten. Es war mir wichtig, gleich viel oder mehr zu verdienen.
Hätte Ihre Mutter mit einem Grund einkommen eine andere Biografie gehabt? Meine Mutter ist Lehrerin und hat sich laufend weitergebildet. Sie musste viele Darlehen aufnehmen, um Schulleiterin zu werden. Das gab viel Stress. Dieser Stress wäre wohl kleiner gewesen, und sie hätte ihre Weiterbildungen even tuell schneller abgeschlossen, weil sie nicht immer berufsbegleitend hätte stu dieren müssen. Vermutlich hätte es ihr Leben etwas einfacher gemacht.
Wird sich etwas für Frauen im speziellen ändern mit dem bedingungslosen Grundeinkommen? Frauen orientieren sich bei Entscheidungen im Leben noch immer sehr an ihren Müttern oder Gross müttern, selbst wenn sie dies nicht wollen. Irgendwie sind wir darauf programmiert, am Ende doch eher konservative Wege zu gehen. Zumindest erlebte ich das in den USA so. Mit einem Grundeinkommen wären Frauen sicherlich mutiger, ihr eigenes Ding zu machen. Ich halte mich da ganz an meine Grossmutter. Sie war zwar konservativ und hatte eine sehr klare Vorstellung davon, was eine Frau in meinem Alter tun sollte. Aber zugleich sagte sie mir auch immer: «Mädel, du lebst nur ein mal! Mach etwas aus deinem Leben und warte nicht damit, bist du alt bist.»
Katie Pietsch wuchs in den USA auf, wo sie Chemie studierte. Danach kam sie in die Schweiz, um ihre Doktorarbeit in Toxikologie abzuschliessen. Pietsch arbeitete für eine grosse Pharmafirma in Basel, bevor sie ihr gesamtes Erspartes in eine CraftBierbrauerei investierte. Sie hat bereits mit anderen Brauerinnen ein eigenes Spezialbier kreiert.
Fotos: Laurent Burst Zwölf Gespräche zum bedingungslosen Grundeinkommen .
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