Wermutwolf

Wermutwolf

Wermutwolf

Urban Pro
Ort Zürich
Gegründet 2023
Follower 2
Ein Tasting der anderen Art

Ein Tasting der anderen Art

An einem stürmischen Herbsttag unternehme ich ein etwas exzentrisches Ritual. Es ist ein mehrschichtiges Tasting des «Absinthe Brevans HR Giger» von der Matter-Luginbühl AG aus Kallnach, als Hommage an die Komplexität dieses spezifischen Absinthes wie auch der Person H.R. Giger und seiner Kunst.Sascha und ich mögen viele Lebenswasser. Am liebsten mag er Whisky und ich Mezcal. Doch wir beide lieben Absinth, den grossen, starken Bruder vom Wermut. Ich möchte nun nicht viel allgemeine Worte über Absinth verlieren, denn Sascha hat hier schon drei echt tolle Artikel darüber veröffentlicht: hier, hier und hier.Auch H.R. Giger mochte Katzen.Aufgrund der Lektüre seines letzten Artikels von Anfang November hatte ich mir bei diesen Meistern des Absinths drei verschiedene Flaschen bestellt. Zwei, bei denen Sascha das Prädikat «ausgezeichnet» gedropt hatte und dann noch den «Absinth Brevans H.R. Giger» (der nicht in Saschas Text vorgekommen ist). Nicht weil ich etwas über diesen wusste, sondern einfach weil ich zeitlebens ein Bewunderer von H.R. Gigers Kunst war.Ganz ehrlich, ich kannte vor Saschas Artikeln weder Matter Spirits (die den Absinth herstellen) noch Markus Lion (der deutsche Händler, der die Idee hatte und mit H.R. Giger das ausarbeitete) noch Jacques de Brevans (auf dessen Rezept aus dem 19. Jahrhundert der Absinth basiert). Ja, ich war unwürdig …Mittlerweile bin ich im Besitz des Werks von de Brevans, wenngleich nicht in Französisch, das hier eine Landessprache ist, sondern Englisch. Ich bin unwürdig …Folgendes Aktionssetting, das ich Echtzeit durchführe:- 4 Tasting-Durchgänge, je 4 cl, mit verschiedener Verwässerung. Also total 1,6 dl Absinth.- 4 persönliche Anekdoten zum von mir schon seit frühen Jahren hochverehrten Hansruedi Giger- 4 × ziehe ich eine Karte aus dem H.R.-Giger-Tarot und schreibe daraufhin nieder, inwiefern ich die Karte für meine momentane, persönliche Situation interpretiere. Ein kleiner Seelenstriptease under the influence.Gigers «Necronomicon» (oben rechts) ist ein grossartiges Buch, und das Grossformat wird seinen Zeichnungen gerecht.Ich beginne Punkt 20.00 Uhr. Ich spiele zu diesem Experiment drei Musikalben im Zufallsgenerator ab, zu denen H.R. Giger das Album-Cover gestaltet hat und die ich mir seit vielen Jahren immer wieder einmal anhöre, und zwar:- «Brain Salad Surgery» (Emerson, Lake & Palmer) – wofür das Bild von diesem Absinth verwendet wurde!- «III» (Danzig)- «To Mega Therion» (Celtic Frost)Die Alben von ELP und Celtic Fronst sind erweiterte Versionen, und so ist für gut 4 Stunden Musik gesorgt. Das sollte reichen. Der folgende Text ist real time geschrieben. Wie in unseren Videos: Es gibt nur einen Take, pure Authentizität, sonst nichts.Das ikonische Cover des Kultalbums von DanzigBezüglich Absinthe-Verwässerung gehe ich diese 4 Stufen durch:- Gar kein Wasser- Ein paar Tropfen- Circa 1:1- So viel, dass der sogenannte Louche-Effekt eintritt, circa 1:3, also dreimal so viel Wasser wie Absinthe.Bei den 4 Tarot-Karten gehe ich nach der Kreuz-Systematik vor:- Die Frage- Das sollte nicht getan werden- Das sollte getan werden- Dahin führt der WegDie Fragestellungen des Abends:- Wie schmeckt mir dieser Absinth in unterschiedlicher Trinkstärke?- Wie gut oder schlecht denke und schreibe ich in zunehmend alkoholisiertem Zustand?- Was sagen die Tarot-Karten?Ich erwähnte zu Beginn die Komplexität dieses spezifischen Absinths. Diesen kannte ich noch nicht, vertraue jedoch auf die Beschreibung des Herstellers:«Als Basisalkohol dient eine ausgewogene Mischung aus Weinalkohol und Marc. Absinthe Brevans wird, wie im 19. Jahrhundert üblich, mit Kräutern koloriert. Das Ergebnis ist ein hochkomplexer, authentischer Absinthe, der so bereits im 19. Jahrhundert existierte. Dieser Absinthe richtet sich eher an erfahrene Absintheliebhaber, die komplexe Rezepturen schätzen. Selbstverständlich ist dieser Absinthe mit Kräutern natürlich gefärbt und enthält weder Zucker noch andere künstliche Substanzen.»Es geht los! Ich rieche schmackhafte Kräuter, Minze und Koriander. Und auch das Wermutkraut, doch dezent. Anis und Fenchel schon auch, doch im Gaumen dann stärker. Der erste Schluck bestärkt meine hohen Erwartungen. Tatsächlich sehr komplex, ausgewogen und sehr spannend. Ein langer, kraftvoller Abgang.Nach dem Mischen lege ich die erste Karte. Die Frage.XIII: Der TodWas soll ich loslassen? Was für ein Opfer wäre der momentanen Situation angemessen, um den neuen Weg richtig zu begehen?Ich gehe nun schon seit vielen Jahren einem Brot-Job in der Administration nach. Es ist verrückt, wie sich in den vergangenen Jahrzehnten, seit dem Internetzeitalter, der Digitalisierung, alles verändert hat. Und wie das so ist bei den Menschen, oft nicht hin zum Besseren, zur Vernunft, sondern allzu oft hin zu einer aufgeblähten Bullshit-Organisation. Beispielsweise konnte ich früher Rechnungen ausdrucken, in Couverts verpacken, frankieren, und gut wars. Heute muss man sich zuerst einmal exzessiven Registrationsprozessen unterziehen. Bei meinem letzten solchen Martyrium fand das online statt, während mich ein gestresster Inder im typischen Englisch (etwas zu schnell für diesen Akzent) vorwärtsgetrieben hat, jede Frage in aggressivem Ton vorlesend, wie wenn ich des Lesens nicht mächtig wäre. Dann muss man Bestätigungen der Bank verschicken, dass man wirklich eine Geschäftsbeziehung miteinander unterhält und das Konto tatsächlich uns gehört.Diesen Giger-Absinth «Wolfsmilch» kannte ich schon. Gefällt mir auch, kommt für mich aber nicht an den «Brevans» ran.Kürzlich wollte ein anderer Kunde respektive auch wieder sein indisches Call-Center, einen Call durchführen, weil er eine läppische 145-Franken-Rechnung bekommen hat, mit einem anderen Bankkonto vermerkt, als dem, das bisher schon registriert war. Wir benutzen nun mal verschiedene Konti für verschiedene Dienstleistungen, was die Buchhaltung vereinfacht. Ich mache mir einen Spass daraus, ihm diesen Call immer wieder zu verwehren, ihn darauf hinzuweisen, dass das kompletter Unsinn ist, wegen diesen paar Kröten so ein Aufheben zu machen, und irgendwann wird die Rechnung dann jeweils trotzdem bezahlt.Wenn es ganz dick kommt, muss man die Rechnungen über ein eigenes Tool des Kunden abwickeln. Eine Schulung dafür kann locker auch einmal eine Stunde dauern. Es soll ja nicht zu einfach sein. Und so kommt es, dass man mit zunehmendem technischem Fortschritt nicht wirklich mehr Zeit für zusätzliche Produktivität erhält, sondern seine Zeit mit immer noch absurderen administrativen Foltertechniken verschwendet.Auf der anderen Seite gehe ich neuerdings diversen viel interessanteren Tätigkeiten nach, wie beispielsweise den Wermutwolf mit bizarren Texten wie diesem zu füttern. Leider kann ich davon noch nicht leben. Doch meine Überzeugung ist, dass sich früher oder später der Erfolg einstellt, wenn man das tut, was man gerne tut. Hoffentlich prä-mortem …«When the Dying calls» von Danzig läuft. «If I play in the dark of the world, and if I lose, I don’t mind, that’s when the dying calls.»Mit H.R. Giger teile ich den Nachnamen. Bevor ich den Namen meines Vaters angenommen hatte, hiess auch ich Giger. Ich weiss heute nicht mehr weshalb, doch ich hasste den Namen. Als Kind brachte mich mein Spitzname «Gigi» sogar einmal zum Weinen. Komisch, heute fände ich diese Benamslung nicht mal so ganz uncool.Necronomicon in FilmversionIch giesse ein paar Tropfen Wasser in die zweite Portion Absinthe ein. Ich rieche Lakritze. Beim Trinken wirkt er gräsriger, krautiger, wärmer. Ein absoluter Genuss! Das Produkt schlägt mit nicht unüblich hohen 68 Alkoholprozenten zu Buche.Ich lege die zweite Karte. Das sollte nicht getan werden.XIV: Die MässigkeitNun gut, dieser Fall scheint mir klar zu sein. Ich neigte schon immer etwas zum Exzess, zum Extrem. Bis 1 Uhr morgens arbeiten, dann noch ein NHL-Spiel schauen, dazu nicht wenige Drinks konsumieren, um 3.30 Uhr schlafen gehen und um 7.30 wieder aufstehen, um erneut arbeiten zu gehen. Oder in jugendlicheren Zeiten Montags bis am Morgen früh an der Party zu bleiben, um anschliessend direkt arbeiten zu gehen, gegebenenfalls inklusive sich kurz zu übergeben …Hier wäre sicher mehr Mässigkeit angebracht, um den geschundenen Körper, der ja ein Tempel ist, nicht so zu überfordern, auf dass er mir auch weiterhin die Möglichkeit bereitet, Pflichten und Spass nachzukommen. Wie ein guter Schnaps sollte wohl auch die Lebensführung ausgewogen sein. Wenn man sich im Rausch der jeweiligen Tätigkeiten befindet, ist es halt oft schwierig, sich dem bewusst zu werden. Okay, ich merke, ich suche bereits wieder nach Ausreden, um der Balance in Richtung Exzess zu entflüchten. Ich bemerke es wenigstens. Ich bin wach. Ich lebe konfrontativ, will nicht von Lebenslügen dirigiert werden. Ich sehe das Licht. Dieses grüne Feen-Licht …Meine Mentoren aus Jugendzeiten schenkten mir einst einen Migros-Sack der von Giger bemalt war. Ich kann mich nur noch dunkel erinnern, insofern weiss ich nicht so ganz, ob die Geschichte wirklich exakt so passiert ist. Die beiden Jungs waren mit einem Bandmitglied von Celtic Frost befreundet. Ja genau, eine der Bands, die ich mir jetzt gerade anhöre (aktuell gerade den Song «Circle of the Tyrants»). Und ich glaube, dass die Tasche ursprünglich ihm gehört hatte. Langer Rede, kurzer Sinn: Ich habe sie verloren. Keine Ahnung wie, wann, warum. Ich ging mit den Dingen früher nicht sehr sorgfältig um …Ich giesse die Absinthe-Portion 3 und relativ viel kaltes Wasser mit dazu ein.In der Nase schmecke ich etwas, was ich zuvor so rein gar nicht wahrgehommen habe, komme aber nicht darauf, was es ist. Ich habe das Gefühl, dass ich so einen ähnlichen Geschmack einst bei einem Mezcal gerochen habe. Nebel, trockener Rauch, Holz, etwas in diese Richtung.Ich lasse den Spirit in meinem Mund zirkulieren, schmecke wieder die Kräuter, nun etwas subtiler. Die Süsse wird zugleich dominanter. Sehr, sehr lecker!Ich lege die dritte Karte. Das sollte getan werden.XVI: Der TurmDer Turm symbolisiert ein Gefängnis unserer starren (Denk-)Strukturen, die zusammenbrechen, was einen harten Aufprall auf dem Boden der Realität zur Folge hat. Doch nach dem Wegfallen der Komfortzone, der Illusionen von Sicherheit, der Lügen, der falschen Hoffnungen und Dogmen, ist eine neue, freiere Existenz möglich.Ganz ehrlich, da muss ich zuerst noch mehr darüber nachdenken. Denn in meinem Selbstbild bin ich niemand, der sich gross Illusionen hingibt, starre Denkstrukturen pflegt oder mich äusseren Einflüssen verschliessen würde. Oder ist es vielleicht eben genau das, dass ich das denke …? Dass mich diese Karte jetzt gerade etwas ratlos zurücklässt, bedeutet wohl, dass ich hier noch genauer hinschauen sollte.Früher ging ich jedes Jahr im Sommer nach Montreux, ans weltberühmte Jazzfestival, meistens nicht nur für 2–3 Tage. Und auf dem Weg dorthin nahmen wir oft einen kurzen Umweg nach Gruyere auf uns, sodass wir das Giger-Museum besuchen konnten. So viele Erinnerungen. Nicht nur seine Kunst war faszinierend, auch der Kontrast zu diesem touristischen Dorf, das immer nach Käse riecht, und den grasenden Kühen auf blühenden Schweizer Postkarten-Wiesen.Ein Handy-Bild von besagtem 11. Juli 2018, im Giger-MuseumUnd dann tritt man in dieses Schloss St. Germain ein, in dem einen die dunklen Künste erwarten. Letztmals war dies am 11. Juli 2018 der Fall. Es waren in früheren Jahren immer schöne Momente, den Meister selbst zu sehen. Wie auch in Montreux «Funky Claude» (Nobs) zu begegnen. Und irgendwann waren dann beide grossen Persönlichkeiten nicht mehr unter uns. Was diese beiden Menschen eint, ist eben auch, dass sie ihre Konfortzone verlassen hatten, um Grosses zu erschaffen.Das Ritual nähert sich bereits dem Ende zu, ich giesse mir Absinthe-Glas Nummer 4 ein, und gebe so viel Wasser dazu, bis der besagte Louche-Effekt eintritt.Ich rieche einen ganzen Kräutergarten. Es riecht frisch. Ich trinke davon und weiss spätestens jetzt mit Sicherheit: Das ist der beste Absinth, den ich in meinem bisherigen Leben verkostete. Oder geraten meine Geschmacksnerven in Euphorie, weil ich nun doch schon eine ziemlich grosse Menge davon intus habe? Natürlich streite ich das energisch ab …Ich lege die vierte Karte. Dahin führt der Weg.XVII: Der SternEine Glückskarte! Der Jungbrunnen der Kreativität. Inspiration und Intuition. Auf Gigers Karte ist ein Wasserfall abgebildet. Das Wasser fliesst in die Erde, sodass Neues wachsen kann. Alte Ängste und Zweifel fallen ab, sodass Gedanken, Gefühle frei fliessen können.Das Kreuz ist fertig gelegt, es ist vollbracht.Ein schöner Abschluss, ein schönes Gesamtbild dieser Karten. Sascha und ich werden mit dem Wermutwolf weiterhin unserer Intuition folgen und das tun, über das schreiben, was wir wollen, was uns interessiert, wohin es uns zieht. Und darauf hoffen, dass Ihr uns auf dieser Reise begleitet.Dieses symbolische Prachtstück habe ich im Giger-Museum in Gruyere aufgenommen. Ich weiss leider nicht mehr, wer der Künstler ist. Und ja, ich mag Katzen … Am 15. Januar 2023 war ich an einer fantastischen Giger-Ausstellung in der Photobastei Zürich zugegen. Anstatt schwärmerischer Schwurbeleien hier ein paar Eindrücke, die ich an diesem Tag mit meiner Handykamera festhielt:Nun noch zur Auflösung der verschiedenen Trinkstärken. Noch immer denke ich, dass mir die Version mit einigen Tropfen Wasser, ja vielleicht auch mit einem ganz kleinen Gutsch davon am besten schmeckt, also maximal ein Verhältnis von 1:1.Das Denken und Schreiben scheint sich im Laufe des Abends nicht merklich verändert zu haben, aber das wird wohl der Tatsache geschuldet sein, dass ich kein Schnelltrinker bin. Für diese vier Absinthe-Portionen, dieses ganze Experiment, habe ich nun fast genau 4 Stunden aufgebracht. Es ist Mitternacht. Geisterstunde. Ich sage nicht, dass ich den Spirit nicht spüre, aber so richtig angetrunken bin ich ganz und gar nicht. Und wie bei der Trinkstärke gefällt mir auch der Text bei Durchgang 2 am besten.Falls nun jemand denkt, das war sicher ein ziemlich düsteres Setting mit Gigers dunklen Bildern und ebenso düsterem, harten Rock und Psychodelik, dem sei entgegnet: Es hat mir Spass gemacht! Wie auch bei jemandem wie dem König der dunklen Filme, David Lynch, ist es auch bei H.R. Giger so, dass das durchaus keine deprimierten Schizos sind/waren, sondern gerade durch die Konfrontation mit ihren Ängsten, mit ihrem Schatten, zu positiven, warmherzigen, witzigen, ultra-kreativen Zeitgenossen reiften. Also giesst euch einen schönen Absinth ein und lebt die dunklen und lichten Momente des Lebens so gut, so intensiv wie es die Situation hergibt. Cheers!