"Eh man, Aggressionstherapie!"

Rosengartenstrasse am Dienstag Abend kurz vor zehn. Ich will mir noch eine Zigarette auf dem Balkon gönnen. In aller Ruhe. Wie ich damit beschäftigt bin, mein chinesisches Feuerzeug dazu zu bewegen, doch mal Feuer zu machen, bemerke ich etwas. Neben dem monotonen Rauschen der immer stark befahrenen Strasse höre ich hektisches Kreischen und Geschrei ziemlich genau von der Mitte der Brücke oberhalb der Bushaltestellen. Ich habe einen prominenten Blick vom Balkon aus auf dieses schöne urbane Bauwerk. Aber es ist nass, windig und dunkel und die grossen Bäume verhindern eine klare Sicht auf die Situation. Ich kann nicht genau erkennen was sich da abspielt. Ich erkenne nur mindestens zwei schemenhafte Gestalten, die sich neben dem permanent aufflackernden Gebrüll wild gestikulierend mal vom Geländer wegbewegen, um dann wieder bedrohlich über das Geländer zu hängen. Beziehungsstreit? Überfall? Prügelei? Da sich das ganze Schauspiel nun schon ganze fünf Minuten gleichbleibend präsentiert und es meine katholisches Gewissen nicht mehr aushält, ziehe ich kurzentschlossen meine Jacke an und bewege mich schnurstracks auf die Brücke. Bevor ich die eigentlichen Protagonisten erkennen kann, wähne ich mich schon in einer wilden Auseinandersetzung, bei der mir die Nase blutig geschlagen wird und sich das Paar letztlich wieder friedlich versöhnt davon trottet. Warum muss sich da auch jemand einmischen?! Aber mitnichten! Kaum komme ich zum Ort des Geschehens, sehe ich zwei Wollmützen tragende junge Damen, von denen mich eine, sobald Sie mich erblickt, gleich hektisch und aufgedreht anspringt. Sie brüllt mir entgegen: "Eh man, Agressionstherapie!". Die andere wiederum demonstriert mir dann "Agressionstherapie": mit einer beeindruckenden Eloquenz, die jeden Castortransport-Gegner vor Neid erblassen würde, wirft SIe sich vornübergebeugt über das Geländer (Absturzhöhe 8-10m!) und brüllt mit ausgestreckten Armen irgendetwas Unverständliches den fahrenden Autos hinterher. Da ich ob meiner Entgeisterung scheinbar keine sichtbare Regung zeige, bin ich schon wieder uninteressant, und so tun es beide wieder gleichsam vereint, als ob es kein Morgen geben würde.
Mit einem Fragezeichen stand ich dann irgendwann wieder auf meinem Balkon. Mitsamt dem gleichmässig monotonen Rauschen der Strasse. Ah ja, das Feuerzeug hat dann doch noch Feuer gemacht. Noch Fragen?