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Eine Stadtgeschichte
Schöner Sommertag. Thermometer zeigt gegen 28°. Ich sitze im Schneidersitz auf dem Holzboden meiner 75 qm grossen 3-Zimmer Altbauwohnung, ein Glas Wasser neben mir. Ich lausche dem Ventilator, der surrend an der Decke seine Runden dreht und vernehme missmutig den Verkehrslärm von draussen. Zürich. Diese Stadt, die sich grösser macht als sie ist, mit all ihren Ecken und Kanten, ihrer kulturellen Mannigfaltigkeit, ihrer Arroganz, ihrer Freundlichkeit, immer darauf bedacht, den Anschluss an die anderen Weltstädte nicht zu verpassen.
Mitten in dieser hochsommerlichen Idylle erklingt Klaviergeklimper – Frau Huber, die graue Eminenz und pensionierte Konzertpianistin von nebenan übt mal wieder. Trotz ihrer 75 Jahre erteilt sie noch immer Klavierunterricht. Doch nicht heute. Denn es sind ja Sommerferien. Schon seit 40 Jahren lebt Frau H. in dem alten Jugendstilhaus. Und neulich hat sie mich während meinem Gang in die Wäscheküche gefragt, ob ich das Klavierspiel erlernen wolle. Nein danke, das Akkordeon, welches ich wohlgemerkt nur in Moll spiele, reicht mir zur Genüge. Meine Füsse tun weh. Musste halt wieder mal diese Pumps anziehen, weil ich mich draussen auf dem Asphalt inmitten all dieser alltäglichen Möchtegernmodels mit meinen bescheidenen 160 cm manchmal ein wenig klein fühle. Mit den Pumps schaffe ich es wenigstens auf 166. Frau Huber misst übrigens nur 153 cm. Dies findet jedoch der charmante Monsieur Lavain aus dem ersten Stock, ein passionierter Maler und der stille Bewunderer von Frau H. gar nicht schlimm. Elle est ma petite princesse. Und manchmal tanzt Monsieur L. mit Frau H. zur Musik von Madame Piaf, was ich sehr schön finde. Das weiss übrigens nur ich (ich hab die beiden mal von der Strasse aus beobachtet und als ich Frau H. später darauf angesprochen habe, ist sie ganz rot geworden). Getrampel und Gekreisch über mir. Die Kinder von Frau Egger sind wohl aus dem Mittagsschlaf erwacht und nerven nun Nanny Claudine aus dem Welschland, denn Frau E. ist Anwältin und arbeitet zu 70% in einer Kanzlei. Frau E. hat übrigens ihren Mann (auch Anwalt) letzten Sommer in Flagranti (auf dem Kanzleiklo) mit einer anderen erwischt und ihn danach vor die Tür gestellt. Justitia sei dank. Seither ist Frau E. Männern gegenüber feindselig eingestellt. Ich frage mich auch, ob sie möglicherweise das Ufer gewechselt hat, weil ich neuerdings (speziell an den Wochenenden) weibliche Lustgeräusche im Duo aus dem Schlafzimmer von Frau E. höre. Genanntes Zimmer liegt übrigens genau über meinem Schlafgemach und ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass mich die Geräusche anwiderten. Neben Monsieur L. wohnt ein Studentenpaar, das jedoch viel auf Reisen ist und auch sonst nicht sonderlich auffällt. Ach ja, da wäre noch der manisch depressive Kater Napoleon von Monsieur L. Manisch depressiv deswegen, weil er an manchen Tagen nur auf der Fensterbank liegt, das Essen nicht anrührt und an anderen Tagen euphorisch (imaginären Mäusen nachjagend) durch die ganze Wohnung hetzt. Armes Tier.
Ich liebe alte Häuser. Die nicht mehr dichten Fenster, das Geknarre der Böden, der manchmal ein wenig muffige Geruch, die Stukaturen, die alten Küchen mit Gasherd, die Einbauschränke. Alte Häuser haben so etwas verspielt Romantisches. Die alten Mauern bergen viele Geschichten. Ein Inserat in einem Café hat mir den Weg zu diesem Haus gewiesen. Mein Vormieter wollte eine Weltreise machen und hat mir bei der Besichtigung gleich die Schlüssel in die Hand gedrückt. Glück gehabt so ein Bijou zu ergattern. Sogar mit der Möglichkeit auf Ferien auf Balkonien. Ich mag diese Betonbauten nicht, die überall gebaut werden, diese mit den riesigen Fensterfronten und den Flachdächern. Urbanes Lebensgefühl sollten sie vermitteln.
Auf meinem Balkon steht ein mit Mosaiksteinchen geschmückter Stuhl. Das Pendant zum Stuhl in Form eines Tisches habe ich leider bis heute noch nicht gefunden. Leider. Dafür stehen überall diese verzierten Glasbehälter in allen erdenklichen Farben für Kerzen rum. Ich bin eine bekennende Kitsch Sympathisantin. Meine Bleibe ist voll von farbenfrohen Dingen, die nicht lebensnotwendig sind, jedoch jedem Zuhause die nötige Prise Gemütlichkeit und Fröhlichkeit schenkt. Und Räucherstäbchen. Ich liebe diese Naq Champa Räuchstäbchen, welche solch einen süssen, jedoch nicht penetranten Duft verströmen. Oft liege ich stundenlang in der Badewanne (mit Gummientchen) und verwöhne mich mit der Duschbrause. In den lauen Sommernächten sitze ich, alleine oder mit Freunden, auf dem Balkon. Schon etliche Rotweine wurden auf diesem unscheinbaren Balkon getrunken. Wie auch letzte Nacht. Ach ja letzte Nacht. Als dieser André bei mir war. Die ganze Nacht. Kennen gelernt haben wir uns auf einer Sommerparty nicht weit von mir. Wir tanzten zu südamerikanischer Musik – er ist mir sofort aufgefallen mit seinen halblangen dunkelbraunen Haaren. Ich mag Männer mit langen Haaren. Die haben so was Wildes, unnahbares. Nun ja, aus einem Gläschen Wein wurden bald mehrere und irgendwann lagen wir nackt bei mir auf dem Bett. Bald bewegte er sich auf und in mir. Jedenfalls bin ich heute erst um 2 Uhr nachmittags aufgewacht. André weg. Hat nur ein Zettel mit einer Nummer hinterlassen. Bitte melde dich doch. War schön mit dir. A. Den Zettel habe ich in meiner Hand während ich im auf dem Boden sitze. Eigentlich bin ich kein Freund von One Night Stands. Ich bin ein Beziehungsmensch. Definitiv. Da fällt mir auf, dass ich nur in Unterwäsche gekleidet bin. Macht ja nix. Ist ja sowieso so heiss. Trotzdem ziehe ich mir ein Kleid über und schlurfe barfuss zum Briefkasten. Ausser der Tageszeitung keine Post. Monsieur L. blickt zur Tür hinaus. Bonjour Mademoiselle, comme était la nuit? Dabei lächelt er und zwinkert so sonderbar mit den Augen. War ich so laut? Ich lächle auch und renne die Treppe hoch. Irgendwie ist mir das Ganze peinlich. Ich will ja schliesslich nicht in die Fussstapfen von Frau E. treten. Frau H. kommt mir entgegen. Sie trägt einen Strohhut und zu meiner Überraschung ein Kleid. Ihre langen grauen Haare hat sie zu einem Zopf geflochten. Richtig jung sieht sie aus. Ich lächle abermals und zeige Bewunderung für ihr Aussehen. Trotz vielen gescheiterten Beziehungen scheint Frau H. immer fröhlich und nie einsam zu sein. Dies liegt wohl auch an Monsieur L. In meiner Wohnung betrachte ich mich im Spiegel. André. André. Ich hab mich doch nicht etwa verliebt? Ich greif nach meinem Telefon, lass es aber gleich wieder sinken. Nicht so vorschnell junge Dame. Ich balle meine Zettelhand zu einer Faust und setze mich auf den Balkon. Draussen tätigen die Leute ihre Wochenendeinkäufe oder sitzen in Cafés rum. Ein ganz normaler Samstag. Ich strecke meinen Kopf der Sonne entgegen, schliesse die Augen und geniesse das Hier und Jetzt in der sommerlichen Wärme. In meiner Hand verwandelt sich das Papier mit der Nummer von feste in nasse Materie. André kann warten.