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Institut Zukunft

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Ort Zürich
Gegründet 2015
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«Gesell­schaftsprozesse anders denken»

«Gesell­schaftsprozesse anders denken»

Die Soziologin Sarah Schilliger (36) ist davon überzeugt, dass dank einem bedinungslosen Grundeinkommen Männer ihr Arbeitspensum reduzieren und sich mehr an der Haus- und Familienarbeit beteiligen würden. Gleichzeitig warnt sie davor, dass die Initiative zu einer neoliberalen Utopie pervertiert werden könnte.Für eine Sondernummer der Zeitschrift «bref» führte die Journalistin Nadja Schnetzler Gespräche mit zwölf Frauen unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen beruflichen, religiösen, finanziellen und familiären Hintergründen — mit Gegnerinnen, Skeptikerinnen und Befürworterinnen des Grundeinkommens. Frau Schilliger, Feministinnen befürch­ten, dass sich durch ein Grundeinkom­men Frauen noch stärker in der Fürsor­ge engagieren. Könnten tatsächlich grosse feministische Errungenschaften der letzten dreissig Jahre verloren ge­hen? Das ist ein Horrorszenario für jene, die noch geprägt sind von der Hausfrau­ennorm von vor dreissig bis sechzig Jah­ren. Damals war eine Forderung der Frau­enbewegung, dass sich Frauen vermehrt in die Erwerbsarbeit integrieren und sich dadurch emanzipieren. Die Realität ist heute aber eine komplett andere. Für Frauen ist das Recht auf Erwerbsarbeit zunehmend zu einer Pflicht zur maxima­len Erwerbsbeteiligung geworden. Wer fordert dies im politischen Pro­zess? Heute wird insbesondere von der Wirtschaft propagiert, dass Frauen eine Erwerbsarbeit leisten müssen, um jeden Preis. Das geht sogar so weit, dass man sagt: Frauen, die studiert haben, sollen Strafgebühren bezahlen, wenn sie nach der Familiengründung keine Erwerbs­ arbeit leisten. Die US­Sozialphilosophin Nancy Fraser sieht vielmehr die Männer in der Pflicht. Ihr Verhalten werde dar­über entscheiden, wie die Verteilung von Erwerbs-­ und Fürsorgearbeit in Zukunft aussehen wird.Inwiefern? Wenn sich Männer nicht weit­aus mehr an der Haus­- und Familienarbeit beteiligen, wird es keine geschlechterge­ rechte Gesellschaft geben. Ein Grundein­kommen könnte die Bedingungen dafür verbessern: Väter würden ermutigt, ihre Erwerbstätigkeit zu reduzieren und auch vermehrt Teilzeit zu arbeiten. Zudem wären Frauen finanziell unabhängiger.Jede Person soll also den Dingen nach­ gehen, die sie erfüllt und mit denen sie einen Beitrag zur Gesellschaft leisten kann? Ja. Ich sehe das Grundeinkommen auch als eine Chance, über traditionelle Strategien hinauszugehen. Es hat das Potenzial, einige Gewissheiten zu hinter­ fragen. So zum Beispiel jene, dass wir am besten in abgeschlossenen, kleinfami­liären Einheiten leben. Vielleicht würden sich vermehrt Menschen fragen, wie wir uns gemeinschaftlich organisieren könn­ten. Heute sehe ich viele Paare mit Kin­dern, die komplett im Hamsterrad von Job und Kinderbetreuung gefangen sind.Wo sehen Sie Schwierigkeiten beim Grundeinkommen? Die Finanzierung ist für mich ein zentraler Punkt. Wie soll sie bewerkstelligt werden? Im Initiativtext wird über die Art der Finanzierung leider gar nichts gesagt. Wohl auch, weil man noch nicht zu viel vorgeben möchte. Diese Diskussion muss aber sehr ernsthaft und genau geführt werden, da es viele offene Fragen bei der Finanzierung zu klären gilt. Die da wären? Die Frage ist, ob wir das Grundeinkommen lediglich aus Mehr­wertsteuern finanzieren oder aus progres­siven Steuern auf Einkommen und Ver­mögen. Letzteres hätte einen gerechten Umverteilungseffekt. Zudem befürchte ich, dass das Grundeinkommen auch für eine neoliberale Utopie missbraucht wer­ den könnte, indem die heutigen Sozial­ leistungen durch das Grundeinkommen vollkommen ersetzt würden.Als Soziologin beobachten Sie, wie und warum sich Gesellschaften verändern. Die Einführung eines Grundeinkom­mens wäre der Start einer länger dau­ernden Veränderung. Gibt es vergleich­ bare andere Prozesse?Die gibt es. Beispielsweise die Veränderung bei den Rollenbildern und Geschlechterstereoty­pen. Wir sehen, dass diese Veränderung viel Zeit benötigt. Insbesondere die Einstellungen in unseren Köpfen verändern sich nicht von heute auf morgen. Die Emanzipation der Frauen zum Beispiel und der Aufbau einer geschlechtergerech­teren Gesellschaft sind noch immer auf der Tagesordnung, und weiterhin kämpft die feministische Bewegung dafür. Die Einführung eines Grundeinkommens wäre der Startschuss für eine langwierige Veränderung, eine Art Transformation. Aber selbst jetzt, wo wir dieses Interview führen und sich eine Gesellschaft in einem Entscheidungsprozess befindet, sind wir alle bereits Teil davon. Veränderungen, die rascher vonstatten gehen, erwachsen aus Migrationsströ­men. Die Idee des Grundeinkommens ist, dass jeder, der in der Schweiz lebt, dieses erhält. Also auch Flüchtlinge. Wie finden Sie das? Das ist eine Knack­nuss, die unbedingt diskutiert werden muss. Denn häufig wird in Diskussionen um das Grundeinkommen nicht näher darauf eingegangen, wer alles ein Grund­einkommen erhalten würde. Also alle rechtmässig ansässigen Menschen? Alle Staatsbürger? Oder jene, die sich dauer­haft in einem Land aufhalten? Und was heisst dauerhaft: nach fünf, nach zwei Jahren, nach einem Jahr? Wir müssen das diskutieren. Auch um dem Argument von rechter Seite entgegenzutreten, dass ein Grundeinkommen nur den Sozialschma­rotzer-­Tourismus fördert.Ein Teil der Gesellschaft erhält ein Grundeinkommen, ein anderer nicht. Würde das nicht neue Probleme schaf­fen? Ja. Deshalb muss die Idee des Grund­ einkommens zwingend mit der Frage der globalen Bewegungsfreiheit verbunden geführt werden — und langfristig müsste die Idee transnationalisiert werden. Wird das Grundeinkommen nur in der Schweiz eingeführt, werden mit Sicherheit Regeln aufgestellt, die Zäune zur Folge haben. Und genau das läuft der Idee eines Grund­einkommens zuwider.An welchen Themen sind Sie als Sozio­login besonders stark interessiert? Ich will Ungleichheiten und Machtverhältnis­se aufspüren. Ausgehend von konkreten Realitäten und gesellschaftlichen Ausein­andersetzungen versuche ich, Gesell­schaftsprozesse zu verstehen und anders zu denken. Es ist ja nicht so, dass wir be­ reits in der besten aller möglichen Gesell­schaften leben. Gibt es da erfolgversprechende Ideen?Soziale Bewegungen von unten, die selbstorganisiert sind, die neue Wege des Zu­sammenlebens erproben, finde ich span­nend. Hier werden konkrete Utopien entworfen. Antworten auf derzeitige ge­sellschaftliche Herausforderungen kön­nen wir nicht am Schreibtisch erfinden, sondern nur in konkreten und alltäglichen sozialen Kämpfen. Ich bin selbst in verschiedenen Bewegungszusammenhängen engagiert. Politisches Engagement und wissenschaftliche Arbeit befruchten sich dabei gegenseitig. Ich will diese Bereiche auch nicht strikt voneinander trennen. Es braucht eine engagierte Wissenschaft, die sich einmischt.Viele Menschen sind mit dem Status quo zufrieden und wollen sich nicht weiter in gesellschaftliche Diskurse ein­ bringen. Ich glaube aber nicht, dass es einfach am fehlenden Interesse liegt, dass Menschen sich nicht politisch engagieren. Damit soziale Bewegungen entstehen, braucht es mindestens drei Dinge: Res­sourcen, ein Kollektiv von Menschen und gemeinsame Perspektiven, die man verfol­gen will. Ressourcen zu haben ist eine wichtige Voraussetzung, um überhaupt befähigt zu werden, sich zu engagieren. Nicht alle haben diese Ressourcen, insbe­ sondere die nötigen zeitlichen Kapazi­täten. Viele Menschen sind ganz einfach damit beschäftigt, ihr Leben einiger­massen im Griff zu haben. Dann braucht es ein Kollektiv, in dem man sich bewegen kann. Für die Entstehung von gesell­schaftlichen Bewegungen sind soziale Räume und Möglichkeiten zentral, um miteinander in einen Austausch zu kom­men.Ein Grundeinkommen könnte helfen, Zeit zu schaffen für vermehrtes Enga­gement. Absolut. Das Grundeinkommen schafft für alle Freiräume zum Denken, Ausprobieren und Handeln. Einige haben das heute schon, aber anderen wird das verwehrt, weil sie wegen langer Ar­beitszeiten und sozialer Verpflichtungen wenig Autonomie in ihrer Alltagsgestal­ tung haben. Das Grundeinkommen bietet die Möglichkeit, sich stärker entlang von eigenen Fähigkeiten und Interessen zu entwickeln. Wenn ich Lust habe, mich weiterzubilden, kann ich das tun. Wenn ich lieber in der Nachbarschaft einen Gemeinschaftsgarten anlegen möchte, ebenfalls. Sarah Schilliger studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie an der Universität Zürich. Ihre Doktorarbeit handelt von Frauen aus Osteuropa, die in der Schweiz als Wander­arbeiterinnen in der Pflege arbeiten. Heute ist sie Oberassistentin und Lehrbeauftragte am Seminar für Soziologie der Universität Basel. Fotos: Laurent BurstZwölf Gespräche zum bedingungslosen Grundeinkommen.